Archiv Tipp

Januar-Tipps von Petra Schweizer

Evita Hamon: Vegane Kuchenliebe – Die besten Kuchen und Torten aus dem Café Kauz

Wer gern vegan isst und Kuchen liebt, ist mit diesem Backbuch bestens bedient. Die Frauen vom Café Kauz in Wien sind, wie ich und vermutlich auch Sie, Hobbybäckerinnen. Jede von ihnen ist hauptberuflich in einem anderen Job tätig, hat aber ihren festen wöchentlich Backtag im Café. Mit viel Leidenschaft und Lust zum Ausprobieren haben sie sich ein grosses Repertoire an veganen Kuchen- und Tortenrezepten angeeignet, an dem sie uns in diesem Buch teilhaben lassen. Das schöne an Rezepten von Laien für Laien? Sie sind auch ohne viel Hintergrundwissen und Profitricks einfach nachzubacken. Ausserdem sind die in diesen Rezepten verwendeten Zutaten in jedem grösseren Lebensmittelhandel erhältlich. Ich habe die Kuchen und Torten in diesem Buch von vorne nach hinten bereits zu 2/3 durchgebacken und kann Ihnen garantieren, die Rezepte funktionieren und die Ergebnisse schmecken fantastisch gut.

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Barbara Sichtermann: Agatha Christie – eine Biografie

Agatha Christie führte ein Leben, so spannend und ungewöhnlich wie ihre Krimis. Es umspannte beinahe ein ganzes Jahrhundert. 1890 geboren und 1976 verstorben, hat sie zwei Weltkriege, das Ende der Aristokratie, die Industrialisierung und die Anfänge der Frauenbewegung miterlebt. Sie war eine reservierte, exzentrische und abenteuerlustige Lady, die mehrere Weltreisen unternahm und sich nebst der Schriftstellerei in besonderem Masse für die Archäologie interessierte. Sie errang sich über die Jahre eine Unabhängigkeit, die für viele Frauen ihrer Zeit noch undenkbar war. All das findet sich ihn ihren Geschichten wieder, die davon erzählen, wozu Menschen fähig sind, wenn sie am Abgrund stehen und die bis heute aktuell und beliebt sind. Einst als Trivial-Autorin abgetan, entwickelte sie sich, mit über zwei Milliarden verkaufter Bücher, zur erfolgreichsten Schriftstellerin aller Zeiten.

Barbara Sichtermann – selbst eine bedeutende Publizistin – hat sich in das Leben der «Queen of Crime» vertieft und diese Biografie geschrieben, in der sie den Stil Agatha Christies nachahmt. So liest sich denn auch ihr Leben so packend und unterhaltsam wie ihre Bücher.

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Emmanuel Pierrat / Fabrice Neaud: Die Comic-Bibliothek des Wissens – Das Urheberrecht

In der Buchreihe «Die Comic-Bibliothek des Wissens» bringt uns der Jacoby & Stuart Verlag diverse Sachthemen in Bildern näher. In der Zusammenarbeit von Comic-Künstlern und Fachpersonen entsteht eine fundierte und einfach verständliche Wissensvermittlung. Dank der Kombination von Text und Bild können Themen besser und auf andere Art zugänglich gemacht werden.

Im neusten Band lernen wir alles Wissenswerte über das Urheberrecht. Emmanuel Pierrat ist Anwalt und Schriftsteller und lehrt an der Pariser Universität. Er ist Fachmann für Urheberrecht und hat viele Klienten in aufsehenerregenden Prozessen vertreten.
Doch was genau ist eigentlich das Urheberrecht, was schützt es und wer überprüft, ob es eingehalten wird? Diese und viele weitere Fragen werden in diesem Comic beantwortet. Ein Thema, das in der heutigen Zeit, in der über das Internet Inhalte immer schneller und unkontrollierter verbreitet werden, immer wichtiger wird.

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November-Tipps von Irene Scheurer

Lisa Elsässer: Im Tal

Die Protagonistin des schmalen Erzählbandes von Lisa Elsässer hat hinten im Tal von einem Bauer eine einfache, einsam gelegene Hütte gemietet für Auszeiten. Sie nutzt diese zum Schreiben und versucht, mit den Herausforderungen der Stille zurechtzukommen. Nicht nur die äussere Landschaft verändert sich bei den «Talreisen», sondern auch die innere. Sie reflektiert über ihre Beziehung zu ihrem Ehemann, ihrem Sohn und ihrem verstorbenen Freund. Ihnen und der Fremden, die sie im Café getroffen hat, schreibt sie Briefe, die sie jedoch nicht abschickt. In wunderschöner, poetischer Sprache schildert Lisa Elsässer die Tage in der Einsiedelei und erzählt von der Bekanntschaft mit dem wortkargen Bauer, die sich zart entspinnt.

Julia Schoch: Das Liebespaar des Jahrhunderts. Biographie einer Frau

«Das Liebespaar des Jahrhunderts» ist der zweite Teil von Julia Schochs geplanter Trilogie «Biographie einer Frau». Der Roman kann aber gut ohne Kenntnisse des ersten Teils «Das Vorkommnis» gelesen werden. Die Autorin erzählt in ihrem neuen Buch von der Entfremdung eines Paares nach 30 Jahren Ehe. Die Ich-Erzählerin will ihren Mann verlassen und reflektiert vor der Umsetzung ihres Plans über die gemeinsamen Jahre. Sie erinnert sich an das erste Treffen an einer ostdeutschen Universität, die rauschhafte Zeit der Verliebtheit, die Studienjahre im Ausland und später die Zeit als Familie mit kleinen Kindern. Sie spürt den Wendepunkten und Dissonanzen nach, die sich in der langen Beziehung eingestellt haben und fragt sich, ob denn eine Beziehung als gescheitert bezeichnet werden kann, wenn sie so lange gedauert hat. Trotz der Ernüchterung ist das Buch auch ein Loblied auf die Liebe; leicht und tiefgründig zugleich.

Susanne Abel: Stay away from Gretchen. Eine unmögliche Liebe

Susanne Abel webt viele interessante historische Fakten in ihren fiktiven Roman ein, den sie auf zwei Zeitebenen erzählt. Sie zeichnet die Geschichte einer Kleinfamilie in Ostpreussen während des zweiten Weltkriegs nach, die sich am Ende des Kriegs als Flüchtlinge im eigenen Land in Heidelberg unter schwierigen Umständen durchschlagen muss. Aufgrund der Beziehung zum afroamerikanischen Besatzungssoldat Bob erfährt die 18-jährigen Protagonistin Greta und ihr «Brown Baby» viel Hass und wird gesellschaftlich ausgegrenzt.

Das Thema Rassismus wird auch auf der zweite Zeitebene, der Gegenwart von 2015, beleuchtet. Die Autorin zeigt Parallelen zwischen der aktuellen Flüchtlingskrise und Gretas Vergangenheit auf und formuliert mit ihrem Debütroman ein eindringliches Plädoyer gegen Hass und Diskriminierung.

Die Fortsetzung der Geschichte hat Susanne Abel in ihrem zweiten Roman "Was ich nie gesagt habe. Gretchens Schicksalsfamilie“, der 2022 erschienen ist, veröffentlicht.

September-Tipps von Colette Fehlmann

Peter von Matt: Übeltäter, trochne Schleicher, Lichtgestalten

Die Kunst erleuchtet die Welt. Aber sie tut es auf zwielichtige Weise.

Zur Dummheit braucht es mindestens zwei. Einen, der dumm ist, und einen, der es feststellt.

Er ist unsterblich. Das weiss jeder. Und keiner weiss, warum. (Der Struwwelpeter!)

Mit solchen Anfangssätzen hat uns der Autor bereits gepackt.

Peter von Matt, der von 1976-2002 an der Universität Zürich Neuere Deutsche Literatur gelehrt und Generationen von Studierenden begeistert hat, versammelt in dieser neusten Publikation bisher verstreute Vorträge und Essays. Dass er, neben vielen weiteren Preisen, 2012 den literarischen Schweizer Buchpreis erhielt, sagt Vieles aus über sein Schreiben. Er verbindet seine hohe germanistische Kunst der detektivisch genauen Lektüre von Weltliteratur mit einem unverwechselbaren Sprachstil: scharfsichtig, empathisch und ungemein vergnüglich.

Mit Ordnung muss sein beginnt der erste Text, geht von da zur verschmitzten, aber sehr aufschlussreichen Erläuterung der frag-würdigen binären Klassifizierung der Wissenschaften in Natur- und Geisteswissenschaften. Dabei zeigt er die hochkomplexe, einer Formel ebenbürtige Präzision der literarischen ‘Metapher’. Grandios!

Dann überrascht er mit der subversiv-utopischen ‘Verschwörung’ zwischen Papageno und Pamina (statt der erwarteten Tamina) in Mozarts Zauberflöte oder mit dem «Familiengeheimnis», das uns alle angeht und das die Literatur über Jahrhunderte in spannungsvolle Dramen umwandelte.
Schliesslich «Struwwelpeters Unsterblichkeit», wo wir über den scheinbar bekannten Text und seine Entstehungsgeschichte ungeahnt Neues erfahren. So lautet die Frage nach der Lektüre von jedem Aufsatz: Was für Entdeckungen erwarten uns im nächsten?

Am liebsten würde man all die erwähnten und knapp erzählten Beispiele gleich selber lesen oder wiederlesen. Als Alternative: Die früheren Werke des grossen Autors Peter von Matt.

Lana Lux: Jägerin und Sammlerin

Erzählt wird von einer toxischen Mutter-Tochter-Beziehung, aus verschiedener Perspektive. Zunächst erleben wir Alissas prekäre Gegenwart in der WG mit ihrer Freundin Mascha. Mit ihr verbindet sie seit ihrer Kindheit eine Hass-Liebe, eine Beziehung des jahrelangen Wettstreits bezüglich krankmachender Ballettambitionen und im Kampf gegen den Körper, was bei beiden jungen Frauen in die Essstörung führt. Aus der Innensicht Alissas erfahren wir hautnah, wie Bulimie sich anfühlt und welches Gedankenkarussell ihren Kopf besetzt.

Im zweiten Teil schreibt Alissa in der Klinik, als Therapieform, Lebensphasen aus ihrer Vergangenheit nieder. Sie ist als Zweijährige aus der Ukraine nach Deutschland gekommen, wo ihre Eltern versuchten, Fuss zu fassen. Alissa tut alles, um ihre Mutter glücklich zu sehen, sie stolz zu machen, die Mutter scheint nichts anderes zu können, als ihre Tochter zu entwerten. Ihre permanente Kritik hat sich in Alissa als Schuldgefühl eingebrannt. Erst im dritten Teil erfahren wir aus der Sicht der Mutter deren traumatische Geschichte, die sie ihrer Tochter nie erzählen wollte.  

Lana Lux aber schreibt lakonisch, rhythmisch, leichtfüssig, mit Komik. Es sind hinreissende Dialoge, die die tragische Verstrickung hör- und spürbar machen.

Eine schmerzhafte Geschichte, atemberaubend erzählt.

Franz Schubert: Klaviertrios Nr. 1 op. 99 und Nr. 2 op. 100 Christian Tetzlaff, Tanja Tetzlaff, Lars Vogt (2023), in memory of Lars Vogt (1970-2022)

Schuberts Klaviertrios begleiten mich ein Leben lang. Seit der Filmmusik zum Kinoereignis ‘Barry Lyndon’ von Stanley Kubrick in den 70er-Jahren. Der zweite Satz des Trios in Es-Dur hat sich da für immer eingeprägt und führt zu den beiden integralen Trios: Sie gehören zu den anrührendsten und intimsten Werken der Musikgeschichte.

Schubert hat sie beide 1827, im Jahr vor seinem Tod geschrieben, im gleichen Jahr wie seine «Winterreise». Da geschieht wieder und wieder das Sich Aufbäumen, das sich unvermittelt in perlende, zärtlichste, liedhafte Melodien verwandelt - und dann wieder der Aufruhr, die Dramatik. Was für ein Reichtum an heiter-melancholischen Motiven, Variationen und Modulationen, die daran anschliessen! Hier ist alles gesagt über die menschliche Existenz in vollkommener, schmerzlicher Schönheit. Schubert hat es in seinen nur 31 Lebensjahren durchlebt, durchlitten und erahnt.

Juli-Tipps von Petra Schweizer

Anthony McCarten: Going Zero (Hörbuch gelesen von Johann von Bülow)

Unsere Welt wird immer digitaler und damit auch immer einfacher zu überwachen, auszuspionieren und zu manipulieren. Die meisten von uns unterschätzen, wie gläsern sie bereits sind und welche Möglichkeiten Big Tech und Regierungen haben.

In Anthony McCartens Roman «Going Zero» wird das Ganze auf die Spitze getrieben. Einer dieser Tech-Riesen führt zusammen mit der CIA einen Betatest für ein neues Überwachungsprogramm durch, mit dem kriminelle Personen möglichst schnell aufgespürt und verhaftet werden sollen. Wer es schafft, 30 Tage unentdeckt zu bleiben, dem winkt ein Preisgeld von drei Millionen US-Dollar. Unter den Probanden befinden sich, nebst fünf professionellen «Untertauchern», fünf weitere ganz gewöhnliche Personen. Eine von ihnen ist die Bibliothekarin Cathlyn Day. Sie ist entschlossen, dieses Wettrennen zu gewinnen. Ihr bleibt keine Wahl, denn für Cathlyn geht es um etwas ganz anderes.

In diesem packenden Roman, der manchmal wie ein Science-Fiction-Thriller anmutet, ergründet Anthony McCarten, wie gross die Möglichkeiten der digitalen Überwachung sind, mit welchen Argumenten man sie rechtfertigen und wo uns das hinführen könnte. Die grössten Fragen aber bleiben, was macht diese Macht mit denjenigen, die sie in Händen halten und haben einzelne Personen gegen dieses System überhaupt eine Chance?

Spannend und mit angenehmer Stimme gelesen von Johann von Bülow.

Ghost of Tsushima (Konsolenspiel Playstation 4 - Rollenspiel von Sucker Punch für Spieler ab 18 Jahren)

In der Rolle des Helden Jin Sakai tauchen wir ein in die Welt der Samurai auf der namensgebenden japanischen Insel Tsushima. Historische Ereignisse aus dem 13. Jahrhundert bilden die Grundlage für die fiktive Geschichte.

Die Mongolen starten einen Grossangriff auf Tsushima bei dem die zahlenmässig weit unterlegenen Samurai nahezu vollständig ausgelöscht werden. Die einzigen Überlebenden sind Jin Sakai und sein Onkel, der von den Mongolen gefangen genommen wird. Unsere Aufgabe ist es nun, den Weg der Samurai zu bewahren, den Onkel zu befreien und mit Hilfe neuer Verbündeter die Insel vor den Mongolenhorden zu retten.

Die ganze Geschichte spielt sich in einer reichhaltigen, bildgewaltigen Open World ab, die uns voll in ihren Bann zieht. Man kann stundenlang durch sich im Wind biegende Grasfelder und verwunschene Bambuswälder reiten oder aussichtsreiche Klippen erklettern, um alles zu entdecken, was es zu entdecken gibt.

In den unzähligen Nebenquests tauchen wir durch mythische Geschichten noch tiefer in die japanische Kultur und Folklore ein.

Auch der Spielcharakter Jin Sakai hat Kontur und Tiefe. In Rückblenden sehen wir seine Kindheit und blicken ihm in seine Samurai-Seele. Er ist ein innerlich zerrissener Held, der sich einerseits an den Bushido-Codex seines Clans halten und ein wahrer Samurai sein will, andererseits aber notgedrungen für die Rettung Tshushimas zu Mitteln greifen muss, die eines stolzen Kriegers nicht würdig sind.

Ghost of Tsushima ist ein rundum überzeugendes, packendes und grafisch wunderschön und aufwendig gestaltetes Action-Adventure-Spiel, das mit einer sehr guten Synchronisation in wahlweise deutsch, englisch oder japanisch und einer tiefgründigen Story aufwartet.

Judith Erdin: Dein bestes Süssgebäck – klassisch & vegan

Ein Backbuch, das funktioniert! Man merkt, dass Judith Erdin viel Erfahrung und eine Ausbildung zur Bäckerin-Konditorin hat. Ihr umfangreiches Wissen gibt sie in diesem Buch mit verständlichen und anschaulichen Erklärungen an die Leserinnen und Leser weiter.

Alle, die es süss und gebacken mögen, sind bei diesem Gebäckbuch genau richtig. Von den verschiedenen Teiggrundrezepten über Schnecken, Stollen Strudel und Co. bis hin zu Berliner und Donuts ist alles dabei, was das Naschkatzenherz erfreut. Und was am meisten überzeugt – für jedes klassische Rezept, gibt es eine vegane Variante, die geschmacklich kaum vom Original abweicht. Es erstaunt, wie einfach sich die Teige auch tierproduktfrei zubereiten lassen und das ganz ohne komplizierte Zutaten.

Ideal für alle, die gern Neues ausprobieren, für Haushalte mit gemischten Ernährungsformen, für Gastgeber, die auch mal vegan essende Gäste haben, für Süssgebäckliebhaberinnen und Backbegeisterte. Probieren Sie es doch einfach aus – es schmeckt!

Mai-Tipps von Barbara Schmidt

Constanze von Kitzing: Ich bin anders als du; ich bin wie du

Leider will der Frühling ja dieses Jahr nicht so richtig in Fahrt kommen. Man könnte darüber lamentieren – oder es sich an den vielen viel zu nassen, kühlen Nachmittagen eben weiterhin mit einem warmen Tee und den Lieblingsbüchern auf dem Sofa bequem machen. Mit dem Nachwuchs im Primarschulalter nehme ich im Moment besonders gerne das gleichwohl warmherzige wie intelligente Wendebuch «Ich bin anders als du; ich bin wie du» von Constanze von Kitzing zur Hand. Was 2019 zuerst als Pappbilderbuch für die Kleinen erschienen ist, wurde zwei Jahre später in einer erweiterten Erstleser-Ausgabe als grossformatiges Vorlesebilderbuch veröffentlicht. Zum Glück! Die neue Ausgabe mit deutlich mehr Text, vielen bunten Bild-Wörtern sowie einer liebevoll gestalteten Bild-Legende ist ein wichtiges Kinderbuch, das überzeugend einfach und sehr nah an der Lebensrealität der Kinder ist.

Auf jeder Seite erfahren die kleinen Leser*innen von Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen den Kindern. Die Vermittlung von Verschiedenheiten und Gemeinsamkeiten in diesem Buch ist hinreissend vielfältig. Oft wird dabei mit Erwartungen und vorschnellen Zuschreibungen gespielt und manches Umblättern überrascht. «Ich bin anders als du; ich bin wie du» ist ein «Wendebuch» und kann von vorne und von hinten gelesen werden. In der Mitte des Buches steht schließlich die Erkenntnis: «Ich bin ich!»

«Constanze von Kitzing ist eine Pionierin, was Diversität in deutschsprachigen Kinderbüchern betrifft», meint der Deutschlandfunk. Und ich finde, er hat recht. Mit ihren Büchern will die Autorin und Illustratorin Kindern nicht nur Liebe, Respekt und Wertschätzung vermitteln, sondern auch Klischees und Stereotype hinterfragen. «Ich bin anders als Du; ich bin wie Du» ist ein wahnsinnig liebevolles, reichhaltiges Kinderbuch, das (nicht nur den Nachwuchs) zum Nachdenken anregt und zu gemeinsamen Gesprächen und Diskussionen über Courage, Freundschaft und einen wertschätzenden Umgang miteinander einlädt. So kommt man auch durch einen kühlen Frühling – und wenn es am Ende doch noch warm wird, finden sich zwischen diesen beiden Buchdeckeln viele gute Ideen, die man zum Spielen mit Freunden auch mit nach draussen nehmen kann.

Anja Wicki: In Ordnung

Um meiner eigenen Sehnsucht nach frühlingshafter Leichtigkeit etwas entgegenzusetzen, habe ich mich wieder einmal mit neuen Textsorten auseinandergesetzt. So habe ich die junge Luzerner Comic-Autorin Anja Wicki und ihre Graphic Novel «In Ordnung» entdeckt. Leicht ist das Thema der Graphic Novel zwar nicht - es geht um das Leben mit einer psychischen Erkrankung - und doch hat mich die Lektüre inspiriert und berührt.
«In Ordnung» erzählt das Leben von Eva. Dieses wird von einer Zwangsstörung bestimmt. Für Eva ist das Leben einfacher, wenn alles seine Ordnung hat, das Besteck exakt neben dem Teller, der Tag einer nie abweichenden Struktur folgt. Fragmentarisch, in locker verknüpften Episoden erzählt Anja Wicki, wie Eva im Lauf der Zeit immer ohnmächtiger in Tiefen ihrer psychischen Krankheit gerät. Die über die Jahre zunehmende Zwangsstörung breitet sich in Evas Leben aus, wie eine Krake, Kleinigkeiten vermögen existenzielle Krisen auszulösen, bis zuletzt alles Spontane aus Evas Leben verdrängt, alle sozialen Kontakte gebrochen sind.
Da taucht eines Tages Gabi auf. Gabi ist ein Rätsel. Als Leser*in weiss man nicht recht, ist es ein echter Mensch, oder eine imaginäre Personifikation des Erzengels Gabriel? Aber ob Mensch oder Schutzengel spielt schlussendlich keine Rolle. Wichtig ist, Gabi ist anders, spontan, chaotisch, unberechenbar. Er bringt Evas Leben durcheinander, was zunächst zu einer neuen tiefen Krise führt - aber auch zu einem ersten Bruch mit ihren Zwangsstörungen.

Zeichnerisch wird Evas Innenleben überzeugend übersetzt. Anja Wicki arbeitet mit wenig Text. Die Bilder sind stilisiert, aufgeräumt, die innerlichen Aufwallungen werden in dezenten Pastellfarben coloriert. So entsteht ein ruhiger, aber steter Sog, der Evas langen Weg durch die Krankheit unmittelbar und nah macht.

«In Ordnung» ist das bestechende Debüt einer feinfühligen Künstlerin; ein sinnliches und nachhaltiges Leseerlebnis.

März-Tipps von Pia Kinner

Veronika Wengert: Nachtzug-Reisen – die schönsten Strecken Europas

Als passionierte Zugfahrerin freue ich mich über kürzlich erschienene attraktive Bücher, die von Zügen, vom Zugfahren und vom genussreichen Unterwegssein handeln. Auch nach zahlreichen Fahrten mit dem Nachtzug kommt mir jede neue Fahrt wie ein neues grosses Abenteuer vor. Sehr gefreut habe ich mich daher über das Buch von der Journalistin und Reisebuchautorin Veronika Wengert und dem Autor und Journalist Jörg Dauscher. Sie bereisen alle Ecken Europas mit dem Nachtzug, von jenseits des Polarkreises im Norden Norwegens bis nach Rijeka oder von Schottland bis Bukarest. Ihre persönlichen Reiseerlebnisse, die nicht nur den Start- und den Endbahnhof beschreiben, sondern auch Städte, Dörfer, Landschaft und Anekdoten von unterwegs, reichern sie mit unterhaltsamen Informationen an. Selbstverständlich fehlen auch die nötigen «Tipps und Tricks» nicht. Das Ganze mit viel Humor und Leichtigkeit, ein wunderbares, sehr inspirierendes Werk!

Besonders schmunzeln musste ich über ihre Auflistung von Nachtzügen in Film, Literatur und Musik. Wenn ich mich das nächste Mal schlaflos im Bett wälze, werde ich mir ihre Empfehlung auf Youtube zu Ohren führen: https://www.youtube.com/watch?v=BHiyBxoL0Nw

Eliette Abécassis: Eine unwahrscheinliche Begegnung

Ein immer wieder faszinierender Aspekt des Zugfahrens sind für mich die Schicksalsgemeinschaften, in die man unfreiwillig gerät. Oft sieht oder hört man nichts von seinen Mitreisenden und doch sind sie da.

Das schmale Buch von Eliette Abecassis erzählt davon, wie sich eine zufällige Begegnung entwickeln könnte. Zwei junge Menschen, die auf den ersten Blick keine Gemeinsamkeiten haben, treffen im fahrenden Zug aufeinander. Die junge Frau ist mit ihren Gedanken bei ihrem Freund, dessen Attraktivität sie sich nur schlecht entziehen kann, obwohl die Beziehung schon längst hohl geworden ist. Der junge Mann, offensichtlich in prekären Umständen, reist mit leeren Händen. Nach einem flüchtigen Blick im Zug treffen sie erst später beim Aussteigen wieder aufeinander. Ihr spontaner Entschluss, ihn an Bahnpersonal und Polizei vorbeizuschleusen, hat ungeahnte Konsequenzen.

Ein feines Buch über Entschlossenheit und der Sehnsucht nach einem anderen Leben.

Jaroslav Rudiš: Eine Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen

Nach vielen tausend Kilometern in Zügen verschiedener Länder dachte ich, das Wichtigste über das Reisen im Zug zu wissen. Weit gefehlt! Der verhinderte Historiker und verhinderte Lokführer Jaroslav Rudiš (so beschreibt er sich selbst) rollt mit uns kreuz und quer durch Europa. Geboren in Tschechien und wohnhaft in Berlin ist er besonders oft in den Staaten Zentraleuropas unterwegs. Dabei plaudert er mit uns kurzweilig und sehr anregend über Lokomotiven, Kursbücher, Brücken und Tunnels, Lokomotivführer, Speisewagen, Reisehandbücher (durch die Schweiz reisen er und ein alter Freund mit dem Baedeker von 1920), technische Höchstleistungen und von vergangenen und zukünftigen Zeiten. Er wirft einen liebevollen Blick auf seine – manchmal wirklich schrägen – Mitreisenden und erzählt von grossen und kleinen Menschen. Sein inspirierendes Plaudern erinnert mich an den Blick aus dem Fenster während der Zugfahrt: Man hat ausreichend Zeit, alles zu erkennen, bevor sich etwas Neues ins Blickfeld schiebt. Unterwegs mit Jaroslav Rudiš wird einem einmal mehr bewusst, welch wichtige Lebensadern die Eisenbahnen sind und lange die einzige Möglichkeit waren, zu erschwinglichen Preisen Ware zu transportieren oder schnell zu reisen. Diese reichhaltige Geschichte hinterlässt Spuren, denen wir heute selber mit viel Genuss nachgehen – oder eben nachfahren können.

Ein heiteres Buch über das Unterwegssein und Nie-Ankommen-Wollen.

Januar-Tipps von Ulla Schiesser

Kennen Sie Etel Adnan? Ich bin ihr erst vor Kurzem begegnet. Der Titel und die wunderschöne Gestaltung ihres letzten Buches verführten mich dazu, die ersten Seiten noch im Stehen in der Buchhandlung zu lesen und es zu kaufen. Die Dichterin, Philosophin und

Kennen Sie Etel Adnan? Ich bin ihr erst vor Kurzem begegnet. Der Titel und die wunderschöne Gestaltung ihres letzten Buches verführten mich dazu, die ersten Seiten noch im Stehen in der Buchhandlung zu lesen und es zu kaufen. Die Dichterin, Philosophin und Künstlerin, die ihr Leben zwischen dem Libanon, Frankreich und Kalifornien verbrachte, verband die unterschiedlichsten Kunstformen und Sprachen. Sie starb 2021, im Alter von 96 Jahren.

"Die Stille verschieben" ist eine Sammlung von Gedanken und Reflexionen über Politik, Natur, das Universum, die Gezeiten des Lebens und den nahenden Tod. Die Grausamkeit der heutigen Politik mit ihren Tyrannen beschäftigt die Autorin genauso wie das Orakel von Delphi, einer ihrer Sehnsuchtsorte, der immer wieder auftaucht. Adnans dichte, literarische Texte zu lesen, war für mich ähnlich, wie ein Blick in den Nachthimmel. Man muss nicht alles verstehen und schöpft aus den Zeilen der klugen Frau trotzdem Kraft, Trost und helle Aufregung im besten Sinne. Sie weiss grosse Ernsthaftigkeit mit Lakonie und Wärme zu verbinden und betrachtet die Dinge gleichzeitig aus der Ferne und von innen.

 „Fast alle meine Überzeugungen haben mich verlassen. Ich nehme es als eine Art Befreiung, und außerdem waren es nicht viele.“

Im Lenbachhaus in München sind ihre farbenfrohen, poetischen Bilder noch bis am 23. Februar 2023 ausgestellt; ein guter Grund, eine Reise zu unternehmen.

Katherine May /Jennipher Antoni: Überwintern. Wenn das Leben innehält (Hörbuch)

"Winter" nennt Katherine May die Zeiten, in denen das Leben einem Menschen zu viel aufbürdet. Die Publizistin und Dozentin erzählt, wie ihr eigenes Schicksal Haken schlägt, sie aus der Welt fällt und wieder in sie zurückfindet. Mit einer ihr eigenen Kraft und viel Fantasie sucht Katherine May nach Strategien des "Überwinterns".   

Sie reist nach Tromsø zu den Polarlichtern, schwimmt im eisigen Meer, schwitzt nach langen Gesprächen mit einer finnischen Freundin in der Sauna und feiert das Winterfest Santa Lucia. Sie besucht Samen und Druiden, sinniert über die Bedeutung von Dunkelheit in anderen Kulturen und schreibt von langen Nächten, jenen „dunkeln Stunden der Schlaflosigkeit, wenn mein Geist mitten in der Nacht beschließt, glockenwach zu sein“.

Sie macht sich wunderbare Gedanken über den Winterschlaf der Haselmaus, erzählt vom Einkochen und Einmachen, besinnt sich auf das Wesentliche und gibt sich Zeit, bis sie sich wieder bereit fühlt, mit neuer Energie weiterzumachen.

Ihr Fazit: Jeder durchlebt mal einen Winter. Bei manchen kehrt er immer wieder zurück. Die Autorin hält ein Plädoyer dafür, die dunklen Zeiten anzunehmen und dem Leben eine andere Richtung zu geben.   

Schön und zurückhaltend gelesen von Jennipher Antoni.

Mariana Leky: Kummer aller Art

Eine Versammlung schräger Charaktere, beschädigter Menschen, Aussenseiterinnen und Melancholiker treffen wir in Mariana Lekys neuem Buch. Da ist Frau Wiese, die nicht mehr schlafen kann, Herr Pohl, der nachhaltig Verzagte, eine junge Frau mit erstem Liebeskummer, traurige Patienten und Psychoanalytiker, ein Mann mit zitterigen Händen - alle kämpfen sie sich irgendwie durch den Alltag. Ursprünglich als literarische Kolumnen für die Zeitschrift "Psychologie heute" verfasst, ergeben die Erzählungen zum Schluss ein sehr beeindruckendes Ganzes. Lekys Erzählweise ist leichtfüssig, humorvoll, mit starken Bildern, ich habe viel gelacht beim Lesen. Trotzdem erspürt sie den Kummer aller Art sehr genau und sie bleibt respektvolle Beobachterin ihrer Schicksalsgemeinschaft. Mein Lieblingsbuch 2022.

November-Tipps von Rahel Buchter

Michael Hugentobler: Feuerland

Dies ist die unglaubliche, aber auf Tatsachen beruhende Biografie eines Wörterbuchs. Farbig und mit grosser Fabulierlust erzählt.
Thomas Bridges wuchs Mitte des 19. Jahrhunderts als Adoptivsohn eines englischen Missionars im südlichsten Zipfel Patagoniens auf und übernahm später dessen Stelle. Bereits als Kind faszinierten ihn die dort ansässigen Yamanas, deren Sprache einen reichen Wortschatz und eine komplexe Grammatik aufwies. Er verbrachte jede freie Minute bei diesen Menschen und erstellte im Laufe der Jahre systematisch ein über tausendseitiges Wörterbuch. Nach seinem Tod gelangte dieses auf verworrenen Wegen in die Hände eines deutschen Völkerkundlers, der damit in die Schweiz floh, um es vor der Vernichtung durch die Nazis zu retten.
Der letztjährig für den Schweizer Buchpreis nominierte Autor hat alle Schauplätze des Buches selber bereist, was in den bildhaften, detailgetreuen Beschrieben gut spürbar ist.
Das Volk der Yamana existiert nicht mehr. Es wurde von diversen Seuchen heimgesucht, welche durch Goldgräber, Abenteurer und Missionare eingeschleppt wurden. Ihre Sprache hat in diesem Wörterbuch überlebt. Das Original kann in der British Library in London bewundert werden. 

Kenneth Branagh: Belfast (DVD)

Belfast, 1969: Im schwelenden Nordirlandkonflikt eskaliert die Gewalt und verändert das Leben des 9-jährigen Buddy von Grund auf.
Von einem Tag auf den anderen wird das gewohnt freundliche Nebeneinander der Katholiken und Protestanten im Wohnquartier zu einem bedrohlichen Alltag inmitten von Strassenkämpfen. Seine Familie sieht sich gezwungen, nach neuen Zukunftsperspektiven zu suchen und Buddy findet derweil Wärme bei seinen leicht skurrilen, liebenswerten Grosseltern. Ausserdem beglücken ihn Filme und Comics und er nährt seine Fantasie mit Bildern aus Kino, Theater und Fernsehen.
Da aus kindlicher Sichtweise dargestellt, bleibt das politische Geschehen passenderweise weitgehend unkommentiert und kulissenhaft, was durch das Schwarz-Weiss des Films noch unterstrichen wird.
Der bekannte Regisseur und Schauspieler Kenneth Branagh lässt einen mit diesem Werk an seinen eigenen Kindheitserinnerungen teilhaben. Ausserdem ist "Belfast" eine Hommage an die Film- und Theaterwelt sowie eine Liebeserklärung an die Hauptstadt Nordirlands und ihre Bewohner.
Die Hauptrollen sind alle wunderbar besetzt und es wird ein schönes, breites Irisch gesprochen.

Lea Ypi: Erwachsenwerden am Ende der Geschichte

Die Autorin ist Professorin für politische Philosophie und hat ihre Kindheit im kommunistischen, streng abgeschotteten Albanien der 80er-Jahre verbracht. In ihrem Buch erzählt sie vom Zusammenbruch dieser für sie damals vermeintlich heilen Welt und der anspruchsvollen Zeit danach. Sie war elf Jahre alt, als die Statue des diktatorischen Staatschefs Enver Hoxha gestürzt und damit der Weg zu einem Mehrparteiensystem mit freien Wahlen geebnet wurde.
Lea Ypi erzählt klug und lakonisch, wirft Fragen auf und lädt zum Mitdenken ein.
Ist es möglich, sich auch in einem unterdrückenden politischen System eine Art innere, moralische Freiheit zu bewahren? Ist die Demokratie ein Garant für die Freiheit? Was genau ist eigentlich Freiheit?

September-Tipps von Colette Fehlmann

Alexander Granach: Da geht ein Mensch

Die ukrainische Lyrikerin Halyna Petrosanyak hat uns anlässlich ihrer Lesung in der Regionalbibliothek auf dieses Buch hingewiesen, das sie ins Ukrainische übersetzt hat: Ich beneide Sie alle – und nach einer Kunstpause – dass Sie diese Lektüre noch vor sich haben! Das gab sie uns mit, und was für ein Glücksfall ist dieses Buch tatsächlich.

In seinem autobiographischen Roman erzählt der späterhin in Deutschland und in den USA gefeierte Schauspieler Alexander Granach (1890-1945) von seiner Herkunft aus einem galizischen Dorf, das «Wierzbowce auf Polnisch, Werbowitz auf Jiddisch und Werbiwizi auf Ukrainisch» hiess. Er ist fest verankert in der jüdischen Frömmigkeit seiner Familie, die sich in materieller Not in feindlicher Umgebung behaupten muss. Schon mit sechs Jahren steht er in der Bäckerei seines Vaters. Als er aber mit vierzehn Jahren seine erste Theateraufführung in Lemberg erlebt, hält ihn nichts mehr davon zurück, Schauspieler zu werden. Auch nicht der Erste Weltkrieg und nicht die abenteuerliche Flucht aus der Kriegsgefangenschaft.

Mit bezaubernder Erzählkunst, mit Witz und grosser Nähe zu den Menschen, denen er begegnet, hinterlässt er in den LeserInnen einen unvergesslichen Eindruck.

In der Tat: Glücklich, wer diese Lektüre noch vor sich hat.

Katharina Hagena: Herzkraft. Ein Buch über das Singen

Während der Arbeit an ihrem Buch bestimmte Corona grosse Teile des Lebens der Autorin und beraubte sie, die passionierte Chorsängerin, wie Tausende andere auch, des Singens.

So erkundet sie die ‘Herzkraft’, die im Singen liegt. Singen lässt einen fliegen und doch sind wir dabei geerdet wie nie. Jedem Abschnitt steht ein Gedicht vor. Wie dieses ist das Singen dem Atem, der Luft verbunden, es macht stark und verletzlich, denn es geht darum, die eigene Stimme zu finden, und wie beim Schreiben tritt dabei unser Inneres nach aussen.

Noch Vieles mehr erfahren wir über die Physiologie der Stimme, die verschiedenen Stimmlagen, verschiedene Atemtypen sogar. Sie erzählt Kulturgeschichtliches über die antiken Nymphen und Sirenen oder über die Traumpfade, die Songlines der Aborigines, wo ein überliefertes Lied als Kompass und Karte durch das Landesinnere des Kontinents führte. Unzählige Widerstandslieder gibt es, aber auch die Vereinnahmung des Gesangs durch autoritäre Regimes. Eine Fülle von Erinnerungen an ihre eigene «singende Familie» lädt ein zur Nachahmung - Singen hilft gegen Übelkeit im Auto! Und besonders schön beschreibt sie, wieso es so wichtig ist, beim Singen aus der Stille zu beginnen.

Durchgehend behält Katharina Hagena auch einen vergnüglich-scharfen feministischen Blick darauf, wie Frauen seit jeher um ihre Stimme kämpfen mussten.

Sergej Gerassimow: Feuerpanorama. Ein ukrainisches Kriegstagebuch

Dies sei ein schnell geschriebenes Buch, unter fallenden Bomben und fliegenden Granaten müsse man schnell schreiben, so Gerassimow im Vorwort zu seinem Kriegstagebuch. Dafür gewinne es an Ehrlichkeit, was das unmittelbare Erleben betrifft, das nicht im Nachhinein verstellt werden kann. Die Aufzeichnungen beginnen am 24. Februar 2022 um 5:07 Uhr morgens, als ihn die unheimlichen Geräusche des begonnenen Krieges wecken. Sie enden vorerst mit dem 18. April 2022. Sie zeigen uns die Konkretheit des Krieges im Alltag der Bevölkerung von Charkiw, die von Beginn an ständig unter Beschuss ist. Er erzählt vom tagelangen Schlangestehen der Menschen vor Apotheken und leeren Lebensmittelläden bei bis zu minus 20 Grad Celsius, von fehlenden Medikamenten und fehlendem Wasser, von halsbrecherischen Ausflügen in den zerstörtesten Stadtteil, in dem seine Eltern gewohnt haben. Mit scharfem Sarkasmus übergiesst Gerassimow die russischen Angreifer und die Propagandamaschinerie aus dem Kreml, die weismachen will, dass die Ukrainer ihre eigenen Häuser und Städte zerstörten. Als studierter Psychologe reflektiert er aber auch über die Psychologie der Täter und ebenso differenziert über Patriotismus, toxischen Nationalismus und über universelle Grundwerte, die zu verteidigen sind.

Das Nebeneinander von erschütternden Beschreibungen, Reflexionen und Erinnerungen macht das Tagebuch so eindringlich. «Charkiw ist eine Schönheit. Ich meine, war.» Aus Liebe zu den vertrauten Dingen und Orten will er die Stadt nicht verlassen, obwohl sie seit Wochen immer leerer wird. Inzwischen hat Gerassimow die Aufzeichnungen, die als Serie in der NZZ erscheinen, nach einer längeren Pause wieder aufgenommen.

Juli-Tipps von Petra Schweizer

Jean-Luc Bannalec: Bretonische Nächte. Kommissar Dupins elfter Fall (Hörbuch)

Wer keine blutrünstige Serienmörder mag und vom Psychothriller-Lesen schlecht schläft, dem sei diese Krimireihe empfohlen.

Während wir mehr über Land, Leute, Aberglaube und insbesondere die Kulinarik der Bretagne erfahren, wird in entspanntem Tempo das Rätsel eines Mordes gelöst. Es ist immer empfehlenswert, in diesem Fall aber nicht zwingend, die Reihe vom ersten Band an zu lesen. Jean-Luc Bannalecs Bücher drehen sich immer um einen in sich abgeschlossenen Mordfall.

Besonders zu empfehlen ist die Hörbuch-Version. Lassen Sie sich von Christian Berkels wunderbarer Erzählstimme an die bretonische Küste in eine ehemalige Abtei entführen. Kadeg, einer der Polizisten aus Commissaire Dupins Team, wird im nächtlichen Garten der Abtei niedergeschlagen, nachdem wenige Stunden zuvor seine Tante auf der Terrasse friedlich entschlief. Oder war es doch nicht ganz so friedlich?

Viola Shipman: Vier Frauen und ein See

Vier junge Mädchen verbringen in den 80ern vier wunderbare Sommer im Camp Birchwood am Lake Michigan. So unterschiedlich sie auch sind, sie werden von der ersten Woche an beste Freundinnen. Sie sind wie die vier Blätter eines Glücksklees und nennen sich fortan die Clover Girls.

Doch je näher man sich steht, desto tiefer kann man sich verletzen. Durch einen Verrat wird aus einer Freundschaft fürs Leben eine dreissigjährige Funkstille. Jede lebt ihr eigenes Leben, hat ihre eigenen Probleme. Nur Emily versucht über all die Jahre den Kontakt zu halten, bis sie die anderen drei in ihrem letzten Brief darum bittet, eine letzte Woche im Camp Birchwood zu verbringen und gemeinsam ihre Asche im See zu verstreuen.

Werden die drei übrig gebliebenen Clover Girls ihrem Wunsch nachkommen? Lässt sich eine Freundschaft nach so vielen Jahren noch kitten? Die drei müssen sich erinnern, wer sie sind, wer sie so weit gebracht hat und wie stark sie gemeinsam sein können.

Eine herzerwärmender Sommerroman über Freundschaft, Frauenpower und den Wunsch nach einem glücklichen selbstbestimmten Leben.

Mai-Tipps von Irene Scheurer

T. H. Thoreau: Vom Wandern

Für den amerikanische Essayist und Naturforscher Henry David Thoreau, der von 1817 bis 1862 in Massachusetts lebte, war Unterwegssein ein Lebensmodell. Im täglichen Umherstreifen durch die Natur versuchte er, den Sinn des Lebens zu ergründen.

Beim Wandern konnte er die Natur intensiv wahrnehmen und von ihr lernen. «Das Höchste, was wir erreichen können, ist nicht Wissen, sondern Einklang, verbunden mit Einsicht», sinnierte er.

Er las mit den Füssen und liess die Natur auf sich einwirken. Für mehr als zwei Jahre lebte er ganz zurückgezogen in den Wäldern und näherte sich so dem «eigentlichen, wirklichen Leben», damit er beim Sterben nicht einsehen müsse, dass er nicht gelebt habe, schrieb er.

«Vom Wandern» ist ein tiefsinniger, aktuell gebliebener Essay eines Aussteigers des vorletzten Jahrhunderts.

Bernardine Evaristo: Mädchen, Frau etc.

Bernardine Evaristo verwebt im Roman "Mädchen, Frau etc." die Lebensgeschichte von zwölf verschiedenen Frauen und schafft so ein rund 120 Jahre überspannendes Panorama aus fiktiven Lebensbildern afrobritischer Frauen. Die Protagonistinnen sind durch Familienbande oder Freundschaft miteinander verbunden und teilen die Erfahrung des Andersseins: Sie sind schwarz, weiblich, lesbisch, trans, queer oder heterosexuell, sind politisiert und kämpfen um Anerkennung.

Bernardine Evaristo hat viele eigene Erfahrungen einfliessen lassen und gibt den schwarzen britischen Frauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Afrika und der Karibik nach England immigriert sind, eine Stimme.

Mit ihrem Erzählnetz, das durch die Uraufführung eines Theaterstücks einer schwarzen lesbischen Regisseurin zusammengehalten wird, gelingt es der Autorin, verschiedene Perspektiven einzubringen. Der Text liest sich trotz der vielen Figuren leicht, ist durch viele Abschnitte gegliedert und kommt mühelos ohne (Schluss)Punkte aus.

Für diesen Roman ist Bernardine Evaristo als erste schwarze Schriftstellerin 2019 mit dem renommierten Booker-Preis ausgezeichnet worden.

Carel van Schaik & Kai Michel: Die Wahrheit über Eva. Die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männern

Der Verhaltensforscher und Evolutionsbiologe Carel van Schaik und der Historiker und Literaturwissenschaftler Kai Michel führen in die biologische und kulturelle Evolution ein und erklären, wie sich die Beziehung von Frauen und Männern entwickelte und was sie massiv ins Ungleichgewicht brachte.

Sie zeigen, warum Treue eine männliche Erfindung ist und wieso Sexualität verteufelt wurde und welch zentrale Rolle dabei die Religion spielt. Seit biblischen Zeiten wird Eva die Schuld an der menschlichen Misere in die Schuhe geschoben. Weil sie auf die Schlange hörte und zur verbotenen Frucht griff, vertrieb Gott die Menschen aus dem Paradies. Seither müssen wir im Angesicht unseres Schweisses schuften, und die Frauen sind den Männern untertan. Das Autorenduo geht diesem verhängnisvollen Mythos nach und zeigt auf, was er bewirkte.

März-Tipps von Pia Kinner

Alfred Bodenheimer: Krimibox

Mit dem Frühling naht die Zeit für Gartenarbeit und somit viele Stunden, in denen Hörbücher eine gute Begleitung sein können. Wer Hörbücher nutzt, weiss wie entscheidend die Wahl der Sprecherin/des Sprechers ist, falsche Stimmlagen oder Betonungen ruinieren jede noch so packend geschriebene Erzählung. Erfreulicherweise wurden die ersten fünf Krimis des hauptberuflich an der Universität Basel als Professor für Jüdische Literatur- und Religionsgeschichte tätigen Alfred Bodenheimer als Krimi-Box herausgegeben. Die Geschichten um den lebensfrohen Rabbi Klein sind im jüdischen Milieu Zürichs angesiedelt. Wir begleiten Rabbi Klein an vertraute und unbekannte Plätze in unserer Nähe und lernen die jüdische Gemeinschaft, ihre Sitten und ihre Sorgen und Nöte kennen.

Gelesen werden alle fünf Geschichten vom Film- und Theaterschauspieler Thomas Sarbacher. Er liest mit der genau passenden Portion Dramatik und Ironie. Die fünf Krimis versprechen ein ausserordentliches Hörvergnügen und mit 1700 Minuten auch genug Länge für ausgiebige Gartenarbeit.

Ayelet Gundar-Goshen: Wo der Wolf lauert

Unerwartet bricht das Leben der gut situierten Mutter eines Teenagers auseinander und zerrieselt ihr wie Sand zwischen den Fingern, als an der Schule ihres Sohnes ein schwarzer Mitschüler ermordet wird. Sie entdeckt, dass ihr Sohn sowohl über ein Motiv für den Mord wie auch über die erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse für dessen Vollzug verfügt.

Ausserordentlich stringent erzählt die Autorin von den Sorgen und Ängsten von nicht religiös lebenden Juden in Kalifornien, schildert die Schwierigkeiten einer Mutter, mit ihrem pubertierenden Sohn im Gespräch zu bleiben, zeigt die alltäglichen Meinungsverschiedenheiten in einer Ehe auf, schildert einen spannenden Wirtschaftskrimi. Diese Kombination ist zugleich packend wie beklemmend. Für mich ist es Ayelet Gundar-Goshens bestes Buch.

Dave Goulson: Bienenweide und Hummelparadies

Bienen und Hummeln sind in den letzten Jahren zunehmenden in unseren Fokus gerückt. Ihre Bedeutung für uns und unsere Umwelt sind immens. Trotz ihrer grossen Verbreitung und ihrer wichtigen Funktion ist über viele dieser Tiere nur wenig bekannt. Dave Goulson ist Biologe und forscht ausgiebig über Insekten, bereits hat er mehrere sehr kurzweilig geschriebene Bücher darüber veröffentlicht. Trotz seines unterhaltsamen Erzählstils kam ich nicht immer zügig durch den Text: Seine liebevollen Schilderungen der Schönheit dieser Tiere machten es nötig, dass ich diese googeln musste. In seinem neuesten Buch füllt Dave Goulson diese Lücke. Gewohnt kurzweilig und vergnüglich stellt er die wichtigsten Bestäuber in unseren Gärten vor und bebildert diese Schilderungen mit wunderschönen und aussagekräftigen Fotos. Ebenso knackig beschrieben und schön illustriert stellt er anschliessend Blumen, Stauden, Sträucher und Bäume vor, die entweder auf die Bestäubung durch Insekten angewiesen oder für das Fortbestehen derselben unabdinglich sind. Humorvoll zeigt er die Bedingungen für eine florierende Insekten- und Pflanzenwelt auf und wie einfach wir diese fördern können. Das Register sowie Leseempfehlungen runden dieses sehr gelungene Werk hervorragend ab.

Das Buch eignet sich sowohl für diejenigen, die einen Blumentopf oder einen Garten haben, sowie für alle, die mit offenen Augen durch die Umwelt spazieren und ein Auge für die kleinen Dinge des Lebens haben.

Januar-Tipps von Ulla Schiesser

Richard Wagamese: Der gefrorene Himmel

"Ich heisse Saul Indian Horse. Meine Familie gehört zum Fish-Clan der nördlichen Ojibwe. Wir haben uns in den Gegenden am Winnipeg River angesiedelt, wo der Fluss breit wird. Man sagt, unsere Wangenknochen sind aus jenen Granitkämmen gemeisselt, die sich über unserer Heimat erheben."

So beginnt der eindrücklichste Roman, den ich im vergangenen Jahr gelesen habe. Saul, Indigener, ein Alkoholiker Mitte dreissig, schreibt in einer Suchtklinik seine Lebensgeschichte auf. Er erzählt von seiner Kindheit, von der Grossmutter, die ihn vor dem Zugriff der kanadischen Behörden zu schützen versuchte, indem sie mit ihm in die Wildnis flüchtete und davon, wie er letztendlich doch in eine Residential School verschleppt wurde. Dort erwartet ihn ein "Leben ohne Licht". Die Kinder werden täglich Opfer von sexueller Gewalt und Schlägen, sie werden erniedrigt und gezwungen, ihre Kultur und Sprache zu verleugnen. Es gibt für die meisten kein Entrinnen aus der gewaltsamen Umerziehungsanstalt. Viele begehen Suizid, andere verstummen und erlöschen. Saul Indian Horse hat das Glück, dass einer der Pater sein überragendes Talent für Eishockey entdeckt und fördert und er schafft den Aufstieg in die Profiliga, wo er aber am Rassismus der Weissen scheitert.

Manchmal möchte man das Buch aus der Hand legen, weil es kaum auszuhalten ist. Tun Sie es nicht! Der Roman ist sprachlich hervorragend, er ist spannend und er endet mit einer zutiefst menschlichen, warmen Geste, die einen wieder atmen lässt. Zudem ist mir noch nie ein derart faszinierender, funkelnder Text über einen Sport begegnet. Man versteht die Faszination, die Leichtigkeit und Schönheit des Eishockeyspiels und saust mit Saul klopfen-den Herzens in der arktischen Kälte des Morgens über das Natureisfeld.

Kurt Marti: Hannis Äpfel

Guy Krneta ist der Herausgeber eines schmalen, schönen Bändchens mit Gedichten aus dem Nachlass des Schweizers Kurt Marti, den Sie vielleicht als Verfasser der "Leichenreden" kennen oder als Mundartdichter, Kolumnenschreiber, Pfarrer und Intellektuellen. Neben lakonischen, humorvollen, nachdenklichen Gedichten über das Alter und seine Tücken, über die Welt und ihre schrägen Ecken, neben verspielten kleinen Naturbeobachtungen, findet sich auch das Langgedicht "Hanni", das seiner verstorbenen Ehefrau gewidmet ist. Marti beklagt seinen Verlust, seine vollkommene Verlassenheit, feiert aber auch die Erinnerung an seine ungewöhnliche, starke Gefährtin, die zwischen den Zeilen aufblitzt und die man nach der Lektüre unbedingt kennenlernen möchte. Nora Gomringer schreibt in einem klugen, feinfühligen Nachwort: "Und so erwähnt der Pfarrer-Dichter seinen Gott nur selten auf und zwischen den Zeilen in diesen letzten Gedichten, denn einen Lückenbüsser will er nicht in ihm wissen, eher einen, der sicher um die Beschaffenheit eines Herzens, das halbiert schlägt, weiss." 

Kurt Marti: Sprachkünstler, Pfarrer, Freund. Hrsg. von Klaus Bäumlin

Wer noch mehr über den 2017 verstorbenen Kurt Marti erfahren möchte, dem empfehle ich das Buch, das zu seinem 100. Geburtstag im Januar 2021 erschienen ist. Freunde, Freundinnen und Weggefährten von Marti beschreiben Begegnungen und Gespräche mit ihm, aber auch den indirekten Einfluss, den er auf ihr Denken und Schreiben hatte. Die persönlichen Texte von Fredi Lerch, Franz Hohler, Joy Matter und anderen Schreibenden beleuchten den vielseitigen Kurt Marti aus unterschiedlichen Perspektiven. Es entsteht das Bild eines feinsinnigen, politischen Menschen, mit dem man gerne einmal an einem Tisch gesessen und geredet hätte.

September-Tipps von Rahel Buchter

Chris Yates: Nachtwandern. Eine Reise in die Natur

Der passionierte Angler und grosse Naturliebhaber Chris Yates lebt in den North Downs, einer von Wäldern, Feldern, kleinen Seen und Kreidehügeln geprägten Landschaft im Südosten Englands. Während des Jahres - vor allem rund um Mittsommer - macht er sich gern zu nächtlichen Streifzügen in der näheren Umgebung auf. Ohne vorgefassten Plan und weder mit Karte noch mit Taschenlampe ausgerüstet zieht er jeweils beim Eindunkeln für mehrere Stunden los, um zu sehen, was die Natur für ihn bereithält. Er betrachtet, wie sich im Zwielicht die Konturen der Landschaft zu verwischen beginnen, geniesst die Stille der Nacht, begegnet Waldkäuzen, weissen Damhirschen, wilden Dachsen, einer rätselhaften Wildkatze, beobachtet Vögel, Pflanzen, die Sterne und andere Lichtphänomene. Eine beruhigende Lektüre, welche beim Lesen den Blick auf die uns direkt umgebende Natur weitet und uns innerlich vor deren Schönheit verneigen lässt. Chris Yates hat bei diversen Natursendungen der BBC mitgewirkt und etliche Bücher übers Angeln veröffentlicht.

Ayad Akhtar: Homeland Elegien

Ein sehr kluges, äusserst komplexes Buch, welches einen starken Sog entwickelt und sich mit der Frage beschäftigt, inwiefern sich die Situation der muslimischen Bevölkerung in Amerika und an anderen Orten der Welt nach 9/11 verändert hat. Zudem lässt es ganz nebenbei ein paar Jahrzehnte amerikanischer und pakistanischer Geschichte Revue passieren. Der Ich-Erzähler des Romans heisst Ayad Akhtar, hat mehrere Theater-Stücke und einen Roman verfasst und vor einigen Jahren den Pulitzer-Preis erhalten. Seine Eltern sind 1968 von Pakistan in die USA eingewandert und sein Vater wurde später ein angesehener Herzspezialist – alles genau so, wie im "richtigen" Leben "unseres" Ayad Akhtar auch. Der Autor erzählt unter anderem, wie dem Protagonisten muslimischer Herkunft plötzlich mit Misstrauen begegnet wird und er sich dadurch in seiner eigenen Heimat zunehmend als Fremder fühlt. Oder wie sein Vater sämtliche nicht-muslimischen Patienten verliert und später trotzdem zum Trump-Wähler wird. "Homeland Elegien" ist ein Roman, der sich wie eine Autobiographie liest, aber Fakten und Fiktion so kunstvoll vermengt, dass unweigerlich unsere Neugierde angestachelt wird: Was ist wahr an der Geschichte, was frei erfunden? Welcher Charakterzug ist echt, welcher wurde dazugedichtet? Ayad Akhtar hält unserer Fake-News-Zeit mit seiner Erzählweise den Spiegel vor. Grosse Literatur, die aufklärt, aber auch provoziert.

Ryan White: Fragen Sie Dr. Ruth (DVD)

Ein Dokumentarfilm über das unglaubliche Leben einer bemerkenswerten Frau. Ruth Westheimer wuchs in Deutschland auf, verlor ihre jüdischen Eltern im Holocaust, lebte mehrere Jahre in einem Schweizer Kinderheim, studierte später in Paris und New York Psychologie und Soziologie, war dreimal verheiratet und gebar zwei Kinder. Die quirlige, nur gerade mal 145 cm grosse Frau mit deutschem Akzent und der leicht kratzigen Stimme wurde Expertin in Sachen Sexualaufklärung. Zuerst als Familienberaterin tätig, moderierte sie bereits 1980 eine New Yorker Radiosendung, in der sie völlig unbefangen über Sexualität sprach. Dies tat sie stets empathisch, charmant und voller Witz. Sie leistete Pionier-Arbeit bei der Aids-Aufklärung, räumte dabei mit vielen kursierenden Vorurteilen gegenüber Homosexuellen auf und setzte sich für ein Recht auf Abtreibung ein. Kein Wunder, wurde sie für viele zur Kultfigur. Im Film ist sie bereits 91 Jahre alt, hat aber nichts von ihrer Frische und Lebendigkeit eingebüsst. Sie wird noch immer zu Vorlesungen an Universitäten eingeladen, hält Vorträge und ist ein gern gesehener Gast in diversen Talk-Shows.

Juli-Tipps von Colette Fehlmann

Jens Mühling: Schwere See. Eine Reise um das Schwarze Meer

Das Schwarze Meer ist voller Mythen, Geschichten und brisanter Zeitgeschichte. Von Medea, die Jason vom Pontischen Meer ins fremde Griechenland versetzt hat, über die Wirren nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs bis zur Komplexität der Krimkrise.

Der Reporter und Osteuropa-Kenner Jens Mühling reist um dieses Meer von Kertsch aus, der schmalen Meerenge, die Russland von der Krim trennt, durch sechs Länder, zwei Kontinente, mit allen möglichen Verkehrsmitteln, zu Fuss, per Autostopp, bis er rund ein Jahr später wieder am Ausgangspunkt ankommt. Bereichert mit 1001 Geschichten aus den unzähligen Begegnungen mit Menschen aller Länder, Ethnien, Glaubensrichtungen und ihren Lebensumständen.

Er erzählt vom Irrsinn der jahrhundertelangen Vertreibungen, Umsiedlungen, willkürlichen Grenzziehungen, aber auch über ozeanologische und ökologische Geheimnisse, die das Schwarze Meer birgt.

Wie er die verschiedensten Stimmen der Menschen und wie sie sich die Ereignisse zurechtlegen unverstellt, aber nicht ohne ein Quäntchen Ironie oder Humor wiedergeben kann, das ist grandios.

Wenn wir am Schluss in Jalta vor einem Brunnen stehen, der in die Form des Schwarzen Meeres gehauen ist, haben wir mit dem Autor zusammen die ganze Reise im Kopf ein ganz klein wenig und auf unvergessliche Weise mitgemacht.

Dmitrij Kapitelman: Eine Formalie in Kiew

Nach 25 Jahren, in denen er in Deutschland gelebt hat, will der Ich-Erzähler und «jüdische Kontingentflüchtling» der 1990er-Jahre sich einbürgern lassen. Das fordert einen monströsen bürokratischen Aufwand, insbesondere muss er in seinem Herkunftsland, der Ukraine, wo er die ersten 8 Jahre seines Lebens verbracht hat, eine «Apostille» beschaffen, eine behördliche Überbeglaubigung seiner Geburtsurkunde.

Hier beginnt die tragikomische Geschichte einer Familie, die zwischen ukrainisch-russisch-jüdisch-deutscher Kultur und verschiedenen politischen Systemen aufgerieben wird.

Zwei Zeitebenen verschränken sich fortan auf spielerisch-leichte Weise: Die Reise ins Kiew der Gegenwart mit dem fast surrealen Gang durch die Behörden und eine Zeitreise in seine Kindheit mit der Erzählung über den Bruch, den die Migration in seiner Familie anrichtete.

Den Charme dieses Buches macht Kapitelmans überbordende Sprachkreativität aus, seine Wortschöpfungen («Katzastan», die unerträgliche kompensatorische Katzen-Kolonie, die sich seine ‘Heute-Mutter’ in Deutschland angelegt hat) und die vergleichenden Sprachreflexionen, die die verschiedenen Gepflogenheiten und Mentalitäten seiner Heimatländer spiegeln.

Als dann überraschend der gesundheitlich schwer angeschlagene Vater sich ankündigt, um sich in Kiew günstiger medizinisch behandeln zu lassen, und so den Sohn zwingt, seinen Aufenthalt zu verlängern, nimmt das Unternehmen noch eine ganz neue Wende.

Neben dem Privaten kommt die gesellschaftspolitische Gegenwart beider Länder nicht zu kurz.

Witzig ist die ganze Lektüre, manchmal etwas kalauernd, aber immer sehr lustig und immer wieder sehr berührend.

Nina Kunz: Ich denk, ich denk zu viel

Wer nicht regelmässig die Kolumne von Nina Kunz im Tagesanzeiger-Magazin liest oder wer im Gegenteil jedesmal voller Erwartung die ersten Seiten des Magazins nach ihr durchsucht, hat jetzt Gelegenheit, 30 Texte der jungen Autorin nachzulesen, entstanden in den Jahren 2019/2020.

Auslöser sind Alltagsängste, über die sie schreibend nachzudenken beginnt, um sie zu verstehen. Sie schreibt über die Ambivalenz des Internet (‘ich hasse das Internet’), über Tatoos, die frag-würdige «Rückkehr zur ‘Normalität’» nach Corona, die Überidentifikation mit der Arbeit («workism»), die «Donut-Ökonomie», ihre Liebe zu Zürich und die zu Berlin, die zehn wichtigsten feministischen Bücher der letzten Jahre, über das Glück, das Grübeln, über Trennungen und vieles mehr.

Das Buch ist eine «Einladung in meine Gedankenwelt», wie sie es nennt, und es ist jedes Mal faszinierend, wie sie, ganz nah an ihrem Ich, den Blick weitet auf das gesellschaftliche Umfeld und locker ihr breites literarisches und theoretisches Wissen dazwischenstreut, das zum Selber-Denken und Weiterlesen einlädt.

Blitzgescheit, witzig, nachdenklich, stilsicher und mit wunderbarer Offenheit gibt sie unsere Gegenwart und das Lebensgefühl ihrer eigenen jungen Generation wieder.

Mai-Tipps von Petra Schweizer

Paulo Coelho: Und die Liebe hört niemals auf – nach einem Text von Henry Drummond

An einem Wendepunkt seines Lebens entdeckte der Autor Paulo Coelho Henry Drummonds Text über die Liebe für sich und adaptierte ihn für unsere Zeit.

Henry Drummond war ein junger Theologe, der die Priesterweihe noch nicht erhalten hatte, als er sich 1874 plötzlich im Mittelpunkt einer Gartenpredigt wiederfand. Die Menschen waren zusammengeströmt, um einen weithin bekannten Priester zu hören, der aber an diesem Tag unter einem Mangel an göttlicher Eingabe litt. Es wollte im partout kein Thema einfallen, über das er sprechen könnte. Kurz entschlossen übergab er das Wort dem jungen Denker Drummond, der erst kürzlich von seinen Reisen aus Afrika zurückgekehrt war und bestimmt Interessantes zu erzählen hatte. Es wurde eine Predigt, die keiner der Anwesenden jemals vergass.

Was ist Liebe? Gibt es nur eine Liebe oder viele verschiedene Erscheinungsformen? Müssen wir erst lieben, um Liebe zu empfangen? Oder steht uns die Liebe einfach zu? Wie lernen wir zu lieben?
Die Reflexionen Drummonds zu diesen Fragen gingen damals um die Welt und wer sie heute hört, versteht wieso. Seine Überlegungen berühren, lassen innehalten und nachdenken.

Besonders zu empfehlen ist die von Sven Görtz, mit seiner angenehmen Stimme, gelesene Hörbuchfassung, die man am Ende gern nochmal von vorne hören möchte.

Rena Fischer: Das Lied der Wölfte

Eine wunderbar unterhaltsame, dramatische Liebesgeschichte in den schottischen Highlands.

Die junge deutsche Wolfsforscherin Kaya ist auf dem Weg nach Schottland, wo sie ein Projekt für die Wiederansiedelung des Wolfes begleiten und unterstützen soll. Sie wurde vom schottischen Milliardär Alistair McKinley angestellt und erfährt vor Ort überraschend, dass Sie im Herrenhaus der Familie einquartiert wurde. Ihr Zimmer befindet sich direkt neben dem des verschlossenen Nevis, dem attraktiven Sohn von Alistair. Der Ex-Soldat soll sich auf dem Familiensitz von seinen Kriegsverletzungen erholen. Allerdings verweigert er die Therapie und stellt sich vehement gegen das Wolfsprojekt. Mit arroganter Unhöflichkeit versucht er, Kaya zu vertreiben, die aber nichts so schnell zum Aufgeben bringt. Seine sturmgrauen Augen faszinieren sie, auch wenn sein Auftreten ihre Wut schürt und sie Mühe hat, ihn zu durchschauen. Es muss einiges passieren und die beiden müssen sich ihrer traumatischen Vergangenheit stellen, ehe sie die Liebe zueinander finden.

Wladimir Kaminer: Rotkäppchen raucht auf dem Balkon … und andere Familiengeschichten

Humorvoll, charmant und äusserst kurzweilig verhandelt Wladimir Kaminer anhand kleiner Alltagsgeschichten die grossen Fragen der Gegenwart.

Während die Jungen sich mithilfe teurer Computer selbst finden und die nahe Vergangenheit des Landes verklären, entdecken die Alten das technische Zeitalter und werden zu den Kindern ihrer Kinder. Mit viel Witz und Herz erzählt Wladimir Kaminer von den kleinen Alltagsbegebenheiten und dem komplizierten Verhältnis der Generationen.

Mit seinem wunderbar passenden russischen Akzent liest der in Moskau geborene und seit 1990 in Berlin lebende Autor seine Texte im Hörbuch selbst. In kurze Geschichten gegliedert, empfiehlt sich dieses Hörbuch als Erheiterung für Zwischendurch. Das Lachen ist garantiert.

März-Tipps von Irene Scheurer

Isabel Allende: Was wir Frauen wollen

Isabel Allende hat ihr neustes Buch während des Lockdowns im März 2020 geschrieben. Sie nutzt die Pandemie, die so vieles in Frage stellt, als Zeit zum Nachdenken und fragt sich: Was für eine Welt wollen wir?

Anhand von verschiedenen Beispielen und Lebenserfahrungen zeigt die 79-jährige chilenische Autorin in ihrem Essay auf, dass die Gleichstellung der Frauen in vielen Bereichen und Ländern bei weitem noch nicht erreicht ist.

Die Erfahrung ihrer Mutter, die mit drei kleinen Kindern von ihrem Ehemann in Peru sitzen gelassen worden ist, hat sie geprägt und ihre Auflehnung gegen die Herrschaft von Männern schon früh entfacht. Sie sei schon im Kindergarten Feministin gewesen, schreibt sie einleitend. Isabel Allende ist fest entschlossen, für ein Leben zu kämpfen, das ihre Mutter nicht haben konnte. Sie möchte die jungen Frauen von heute ermutigen und wünscht sich, dass sie Wahlmöglichkeiten haben und angstfrei leben können. Ihr engagiertes Plädoyer am Ende des Buches lautet: Wir wollen eine Gesellschaftsordnung im Gleichgewicht, die nachhaltig ist und auf Respekt füreinander, für andere Spezies und die Umwelt insgesamt gründen. Wir wollen eine Gesellschaftsordnung, die alle einschliesst und keinen bevorzugt, in der niemand diskriminiert wird aufgrund von Geschlecht, Klassenzugehörigkeit, Alter oder sonst einem Etikett, das uns auseinanderbringt. Wir wollen eine freundliche Welt, in der Frieder herrscht, Einfühlungsvermögen, Anstand, Aufrichtigkeit und Mitgefühl. Und vor allem wollen wir eine fröhliche Welt.

Jean-Paul Dubois: Jeder bewohnt die Welt auf seine Weise

Paul ist ein engagierter, hilfsbereiter Mann, der jahrzehntelang die Wohnresidenz «Excelsior» als engagierter Oberverwalter gehegt und gepflegt hat. Er ist nicht nur technisch versiert, sondern kümmerte sich auch - obwohl das nicht in seinem Pflichtenheft stand - einfühlsam um die vielen betagten Wohneigentümer.

Doch dieser friedfertige, fleissige, unauffällige Mann sitzt nun in der Strafanstalt Montreal eine zweijährige Strafe ab und teilt die Zelle mit dem Hells-Angel-Biker Patrick Horton. Wie und weshalb ist ein so freundlicher Mensch strafffällig geworden, fragt man sich bei der Lektüre.

Während der Langsamkeit der Tage im Gefängnis hat Paul viel Zeit, sein Leben Revue passieren zu lassen. Er reflektiert über seine Kindheit in Toulouse als Sohn eines dänischen Pastors und einer Französin, die mit Leidenschaft ein Kino betrieben hat, über seine spätere aufopfernde und erfüllende Zeit als Hausmeister in Kanada und sein spätes Glück mit Winona und Nouk. Am Ende des Romans wird klar, was ihn in Rage gebracht hat und hat sehr viel Verständnis für seine Tat.

Andreas Neeser: Wie wir gehen

Mona versucht, ihrem krebskranken, verwitweten Vater Johannes näherzukommen und einen Weg aus der Sprachlosigkeit zu finden. Er ist ihr in vielen Belangen fremd. Sie realisiert: Du bist mein Vater und ich weiss so wenig über dich, am wenigsten von früher.

Um ihn besser verstehen zu können, bittet sie ihn, seine Geschichte auf ein Diktiergerät zu sprechen. Sie möchte nachvollziehen können, welche Prägungen er erhalten hat und wie diese in ihre Erziehung eingeflossen sind. In vielen Rückblenden wird klar, dass Johannes als viertes Kind einer sehr armen Familie als Verdingbub eine sehr schwierige Kindheit verlebt hat.

Der Roman von Andreas Neeser zeigt auf, dass Erfahrungen der einen Generation der nächsten weitergegeben werden, die dann ein Stück weit diesen Fussstapfen folgt, aber immer auch ihren eigenen Weg finden muss.

Januar-Tipps von Pia Kinner

Cihan Acar: Hawaii

Es ist Sommer und eine brütende Hitze lastet über Heilbronn. Der junge Kemal sucht den Neuanfang in seinem Leben, nachdem ein selbstverschuldeter Autounfall abrupt seine hoffnungsvolle Karriere als Fussballer beendet hat. Auf seinem Weg durch die Stadt trifft er unversehens allerlei Menschen. Diese Begegnungen zeigen, wer Kemal in den Augen der anderen ist oder sein soll. Parallel zu der sich in seinem Inneren aufstauenden Verzweiflung formieren sich in der Stadt zwei verfeindete Gruppen aus Migranten und einer deutschen Bürgerwehr, der Konflikt eskaliert gewalttätig.

Der Autor Cihan Acar studierte Rechtswissenschaften und publizierte bereits Sachbücher über Sportthemen, Hawaii ist sein erster Roman. Leichtfüssig und temporeich schildert er die Probleme eines jungen Menschen, der in zwei Kulturen zuhause ist, dem Ausgrenzung und daraus resultierende Perspektivlosigkeit widerfährt. Ein höchst empfehlenswertes Buch, das mich beim zweiten Lesen nochmals genauso fesselte und berührte.

Katja Oskamp: Marzahn mon amour. Geschichten einer Fusspflegerin

Gleich zu Beginn des Buches verrät uns Katja Oskamp ihr ungefähres Geburtsdatum und es liegt sehr nah bei meinem! Das reicht schon, um die ersten Seiten zu lesen. Katja Oskamp schildert ihr Leben, das im mittleren Alter fad geworden ist. «Die mittleren Jahre, in denen du weder jung noch alt bist, sind verschwommene Jahre. Du kannst das Ufer nicht mehr sehen, von dem du einst gestartet bist, und jenes Ufer, auf das zu zusteuerst, erkennt du noch nicht deutlich genug.» Die Schriftstellerin Katja Oskamp wagt den Neuanfang, absolviert die Ausbildung zur Podologin und beginnt im Berliner Stadtteil Marzahn in einer Praxis.

Marzahn ist vor allem bekannt geworden durch die dank industrieller Vorfertigung in Höchsttempo erstellen Hochhäuser im Osten Berlins. Katja Oskamp nähert sich diesen Menschen von ihren nackten Füssen her. Die Berührung dieser Körperteile, für die sich laut ihren Schilderungen sehr viele Menschen schämen, und ihre sorgfältige Behandlung scheint Katja Oskamp den direkten Weg zum Herzen und der Zunge dieser Menschen zu öffnen. Warmherzig und liebevoll portraitiert sie die Ostberliner und gibt so den Menschen in diesen anonymen Plattenbauten ein Gesicht. Ein höchst lesenswertes Buch für Menschen in jedem Alter.

Daniel Lenz: Flamme rouge

Die auch als Teufelslappen bekannte Flamme Rouge signalisiert bei Velostrassenrennen den Beginn des letzten Kilometers vor dem Ziel. Der Schlussspurt, der nochmals alles von den Athleten verlangt, entscheidet über Sieg und Niederlage. Welche Dramen sich auf diesem einen Kilometer ereignen können, zeigen die beiden Autoren Daniel Lenz und Florian Summerer anhand von kurzweiligen Interviews mit Radprofis. Sie lassen neben bekannten Stars auch Aussenseiter und andere Beteiligte zu Wort kommen wie zum Beispiel den Fotographen Hennes Roth oder den Streckenplaner Fabian Wegmann.

Anhand ihrer Schilderungen werden die Strassenrennen von langwierigen Veloausflügen zu taktischen Mannschaftsspielchen. Durch die persönlichen Schilderungen der Athleten löst sich unsere Fernsehperspektive auf und schärft unseren Blick auf die körperlichen und charakterlichen Stärken und Schwächen der Radsportler. Ein Buch, das sowohl die Vorfreude auf eigene "Pedaliererei" wie auch auf Fernsehübertragungen weckt und sich perfekt für die Lektüre an einem nassen Wintertag eignet.

November-Tipps von Petra Schweizer

Andrea Weidlich: Liebesgedöns - der geile Scheiss vom Suchen und Finden

Eine humorvolle, scharfsinnige Geschichte über "den geilen Scheiss vom Suchen und Finden", erzählt nach wahren Begebenheiten.

Andrea nimmt an einem Liebesseminar teil, das ihr bester Freund ihr zum Geburtstag aufgedrückt hat. Hier soll sie herausfinden, wie sie in sieben Schritten die Liebe findet. Und genau wie Andrea, finde auch ich, dass das Wort Seminar abschreckend und langweilig klingt. Zum Glück habe ich das Buch aber nicht gleich zugeschlagen, sondern mich, wie Andrea, darauf eingelassen, was da kommen mag.

Sind anfangs alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer noch zurückhaltend und unsicher, was da auf sie zukommt, geht es dann doch ganz schnell ans Eingemachte. Wir erfahren viel über die verletzte, verworrene, verschmähte Liebe der Paare und Singles. Über die Angst verlassen zu werden, nicht genug zu sein, alten Schmerz wieder zu erleben, aber auch über Selbstliebe, den eigenen Wert und die Macht der Entscheidung.

Mit viel Souveränität, Ruhe und ohne Wertung führt Dr. phil. Paul Goldbach die Teilnehmenden durch das Seminar und man bekommt den Eindruck, dass dieser Mann auf alles die passende Frage oder Antwort hat. Sind wir selbst am Anfang noch voreingenommen gegenüber manchen Anwesenden, so entdecken wir plötzlich, dass deren Geschichte vielleicht gar nicht so weit von unserer entfernt ist und Abneigung schlägt in Sympathie um.

Dieses Buch hat mich berührt, begeistert, zum Nachdenken und in mich Hineinhorchen gebracht. Ich habe nur eine Bitte: Lesen Sie es!

Christiane Wünsche: Aber Töchter sind wir für immer (Hörbuch)

Eine Geschichte über die Auswirkung, die traumatische Ereignisse auf einzelne Familienmitglieder, deren Bindung zueinander und das Familiengefüge als Ganzes haben.

Die drei Schwestern Johanna, Britta und Heike verbindet nichts als die Familie. Zu verschieden sind sie. Als sie zum 80. Geburtstag ihres Vaters im Haus am Bahndamm zusammenkommen, haben sie sich schon lange nicht mehr gesehen. Jede erinnert sich an ihre Kindheit, die gemeinsamen Jahre der Familie und an ihre früh verstorbene Schwester Hermine. Hier in diesem Haus lauern viele versteckte Emotionen, viel Verschwiegenes und falsch Verstandenes.

Die Geschichte wird anhand der Lebensgeschichten der einzelnen Familienmitglieder erzählt. Die Erzählstränge führen uns von den Kriegs- und Nachkriegsjahren bis zum heutigen Tag. Unterwegs verknüpfen sie sich und zeigen Ereignisse aus unterschiedlichen Blickwinkeln, abhängig davon, wie ihre Position in der Familie und die Bindung zu ihren Eltern war.

Carsten Henn: Der Buchspazierer

Ein unterhaltsames Wohlfühlbuch über Freundschaft und die Liebe zur Literatur.

Carl Christian Kollhoff ist ein Buchhändler der alten Schule. Er kennt seine Kunden ganz genau und wichtiger als das Verkaufen ist ihm, das richtige Buch zum richtigen Leser zu bringen. Er ist stadtbekannt für seine Bücherspaziergänge, auf denen er jeden Abend nach Geschäftsschluss seine speziellen Kunden mit neuen Büchern beliefert. Für sie ist er die wichtigste Verbindung zur Aussenwelt und sie für ihn so etwas wie Freunde.

Doch die Zeiten ändern sich und für die persönliche Kundenbetreuung nach Carls Art scheint in der heutigen Zeit immer weniger Platz zu sein. Seine junge Chefin, die Tochter des alten Geschäftsführers, zu dem Carl eine spezielle Bindung hatte, ist eifersüchtig auf eben diese. Unter dem Deckmantel der Modernisierung und Effizienz versucht sie Carl loszuwerden und kündigt diesem schlussendlich.

Carl verliert seinen wichtigsten Lebensinhalt und hat das Gefühl, seine Kunden im Stich zu lassen. Es bedarf der Macht des geschriebenen Wortes und der Hilfe eines eigenwilligen neunjährigen Mädchens, um sie alle dazu zu bringen aufeinander zuzugehen. Sie fassen den Mut, die liebevollen, aber zarten Verbindungen, die durch die gemeinsame Liebe zur Literatur entstanden sind, zu vertiefen und sich als Freunde beizustehen.

September-Tipps von Rahel Buchter

Graham Swift: Da sind wir

Graham Swift zum Zweiten. Und wieder mit einem - diesmal im wahrsten Sinne des Wortes - zauberhaften Buch.
Die Geschichte beginnt 1939. Dann nämlich wird Ronnie Dean, wie viele andere Londoner Kinder auch, an einen sicheren Ort auf dem Land gebracht und von einem rätselhaften, liebevollen Ehepaar aufgenommen, welches ein grosses Haus mit dem wohlklingenden Namen Evergrene bewohnt.
Er verbringt sechs glückliche Jahre bei den beiden, während deren er von seinem Pflegevater – einem professionellen Zauberer, wie man allmählich erfährt - in die Kunst der Zauberei eingeführt wird.
Zwanzig Jahre später wird Ronnie Dean gemeinsam mit seiner Verlobten Eve White und dem Unterhaltungskünstler Jack Robbins auf den Piers vom Seebad Brighton seine Zauberkünste erfolgreich vor Publikum darbieten, bis es zur Liaison zwischen Eve und Jack kommt.
Eine klassische Dreiecksgeschichte? Auch. Aber dieser Roman beinhaltet noch viel mehr. Es geht um die Rolle der Mütter, um einen abwesenden Vater, um einen Papagei. Um England. Das Verschwinden. Die Erinnerung. Die Magie der Wörter. Das Rätsel des Lebens.
Der britische Autor Graham Swift hat bereits diverse Romane und Erzählbände veröffentlicht.
1996 wurde ihm für seinen Roman ‘Letzte Runde’ der Booker Prize verliehen.
Für mich ist er einer der ganz grossen Schriftsteller unserer Zeit.
Seine Figurenzeichnung ist stets empathisch und er selbst ein Meister darin, elegant und mit zarten Zwischentönen von einer Zeitebene zur anderen zu wechseln, ohne dadurch den Erzählfluss auch nur im Geringsten zu stören. Im Gegenteil: Zeitweise wähnt man sich beim Lesen selbst schwebend in einer Art Spiegelkabinett oder staunend in ein schillerndes Kaleidoskop blickend.

Melitta Breznik: Mutter. Chronik eines Abschieds

Die Autorin, Ärztin und Psychiaterin Melitta Breznik hat einen sehr berührenden, autobiografisch gefärbten Roman über das Sterben geschrieben.
Wie die Ich-Erzählerin hat auch sie sich vor einigen Jahren eine berufliche Auszeit genommen, um ihre kranke Mutter in deren letzten Lebenswochen zu pflegen und ins Sterben zu begleiten. In einem unaufgeregten Erzählton nimmt man am Alltag und dem langsamen Abschied der beiden teil. Dass dabei medizinische Details nicht ausgespart werden, unterstreicht die Authentizität des Textes. Es handelt sich um ein zartes, tröstliches Buch, welches eine grosse Ruhe ausstrahlt.
Zugleich ist es ein Plädoyer für ein – wenn möglich – gut begleitetes und wohlbehütetes Sterben.

Tyler Nilson und Michael Schwartz: Peanut Butter Falcon (DVD)

Ein US-amerikanischer Film von denselben Produzenten wie ‘Little Miss Sunshine’.
Der 22-jährige Zak hat ein Down-Syndrom und wurde mangels anderer Möglichkeiten in einem Altersheim untergebracht. Inspiriert von einem Film, den er sich täglich ansieht, verfolgt er ein ganz anderes Ziel: Er möchte sich zum Wrestler ausbilden lassen. Spärlich bekleidet reisst er aus und trifft auf Tyler, der mit seinem Boot unterwegs und ebenfalls auf der Flucht ist. 
Sie machen sich auf zur weiten Reise Richtung Wrestling-Schule und während ihres gemeinsamen Trips wachsen beide über sich selbst hinaus. Tyler wird zum Freund und Coach von Zak. Dieser entdeckt neue Kraft und Lebensfreude und entwickelt sich zu einem wilden, starken Wrestler namens Peatnut Butter Falcon.
Ein Film mit märchenhaftem Ende, zwei beeindruckenden Hauptdarstellern und wunderschön passender Filmmusik.

Juli-Tipps von Colette Fehlmann

Rutger Bregman: Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit

Ist von Natur aus 'der Mensch dem Menschen ein Wolf', wie es der Philosoph Thomas Hobbes seiner Staatstheorie zugrundelegt, und schützen uns nur eine dünne Schicht von Zivilisation und eine starke Staatsmacht vor rücksichtslosem Egoismus und Gewalt?

Der niederländische Historiker Rutger Bregman, der am Davoser Symposium 2019 den Herrschenden schon mal auf erfrischende, unerschrockene Art den Spiegel vorgehalten hat (nachzuschauen auf Youtube), stellt dieses jahrhundertealte Vorurteil auf den Kopf. Seine These ist: Das Menschenbild, das eine Gesellschaft favorisiert und in Strukturen verfestigt, hat entscheidenden Einfluss darauf, wie sich Menschen verhalten.

Anhand von Forschungen aus Psychologie, Geschichte, Biologie und Archäologie zeigt er auf, dass der Mensch nur aufgrund von Kooperation über Jahrtausende fortschreiten konnte. Von Grund auf sind die meisten Menschen nämlich mitfühlend und hilfsbereit, was sich in Katastrophensituationen besonders deutlich zeigt. Da Macht hingegen zwangsläufig korrumpiert, muss sie anders verteilt werden, z.B. in Form von «Commons» oder «Bürgerhaushalten». Mag sein Ansatz auf den ersten Blick naiv erscheinen angesichts der Grausamkeiten, die Menschen anderen Menschen immer und immer wieder zufügen: Er gibt uns eine Fülle von Belegen aus Geschichte und Gegenwart, dass und wie es anders ginge.

Bregman ist ein begnadeter und witziger Erzähler und präsentiert seine Erkenntnisse in einer Vielzahl von Geschichten. Eine mitreissende Lektüre.

Fabio Andina: Tage mit Felice

Leontica, das Dorf hoch über dem Bleniotal. Jeden Morgen, zu jeder Jahreszeit, bricht der Felice noch vor der Morgendämmerung auf und wandert eine Stunde hoch zu einer Wanne des Bergbaches, wo er ins eiskalte Wasser taucht, er lässt sich vom Wind trocknen und steigt wieder ab. Im Dorf wird darüber gemunkelt. Nur der Erzähler wird ihn während sieben Tagen dabei begleiten und gleichzeitig den Tagesablauf mit ihm teilen, «um ein bisschen so zu leben wie er». Felice ist 90 Jahre alt. Man trifft sich in der Bar, auf der Strasse, man schaut beim Nachbarn herein, fährt ins Tal in den Gasthof und wieder hinauf. So begegnen wir jedem und jeder der Dorfbewohner immer wieder, bis sie uns selber familiär geworden sind. Wir nehmen teil am Tagewerk und Zusammenleben von Menschen und Tieren im Dorf. Man schaut zueinander - und man lässt einander leben in aller Verschiedenheit, weiss von den Lebensgeschichten und Bürden der andern. Keine Idyllisierung.

Das Zentrum aber bildet Felice. Sein Lebensrhythmus in der selbstbestimmten Einfachheit, seine Aufmerksamkeit gegenüber den Dingen, den Tieren und den Menschen um ihn. Seine Geradlinigkeit. Alles ist aufs absolut Essenzielle reduziert. Zero vaste. Mit Sorgfalt werden die einfachen Speisen und die diversen Kräutertees zubereitet. Der Erzähler eignet sich das eine oder andere an. Dazwischen gibt es Schweigen, Stille, Nachdenken.

Andinas wunderbare Sprache, der Rhythmus der Wiederholungen und knappen Dialoge haben die Wirkung von Minimal Music, die einen in ihren Bann zieht. Nach der letzten Seite möchte man wieder von vorne beginnen.

Caroline Fink: Sihlwald

Seit nunmehr zwanzig Jahren wird der Sihlwald sich selber überlassen und verwandelt sich vor unseren Augen in Wildnis - den Wildnispark Zürich. Dazu ist soeben dieser prächtige Portraitband erschienen. Dieser Wald ist nicht «aufgeräumt». Ein Merkmal des Naturwaldes ist das «Totholz», das, abgesehen von seiner ästhetischen Schönheit, vielen verschiedensten Tieren und Pilzen Nahrung und Unterschlupf bietet. Gespräche mit Forschern und Forscherinnen geben spannende Einblicke in das Projekt, und neben allem Wissenswerten zur Tier- und Pflanzenwelt im neuen, alten Sihlwald lese ich auch, was der junge Beruf einer Rangerin im Schutzgebiet ist. Fantastische Bilder von grosser Suggestion lassen einen eintauchen ins Gehölz und rufen danach, diese Wildnis vor unserer Haustür neu zu entdecken und auf uns wirken zu lassen.

Von der gleichen Autorin und Fotografin gibt es den ebenso eindrücklichen Bildband und Wanderführer "Welten aus Eis. Unterwegs zu den eindrücklichsten Gletscherlandschaften der Schweiz" (2016), denen man die gleiche Rückkehr in ihren Ur-Zustand wünschen möchte.

Mai-Tipps von Pia Kinner

Dave Goulson: Wildlife Gardening

Der englische Biologe Dave Goulson hat sich einen Namen als Insektenforscher gemacht und verschiedene äusserst lesenswerte Bücher über diese geheimnisvollen Tiere veröffentlicht. Nun wendet er sich unseren Gärten zu und beschreibt in kurzweiliger Manier, wie wir auch auf wenigen Quadratmetern viel für Tiere, Umwelt und uns bewirken können. Die Kapitel beginnen jeweils mit einem einfachen Kochrezept und behandeln anschliessend unterschiedliche Aspekte des Gärtners wie Teiche, Kompost, Würmer, Ameisen oder Schädlingsbekämpfung. Seine Beispiele sind vielfältig und oft einfach umsetzbar. Beispielsweise erklärt er prägnant, nach welchen Kriterien man im Gartencenter die Blumen auswählen kann: nicht nach Aussehen, Blütenzahl oder Preis, sondern anhand der Insekten, die sich auf den offenen Blüten tummeln. Nebenbei streift er Themen wie Landwirtschaft oder Politik und deren Auswirkungen auf die Tier- und Pflanzenwelt.

Besonders gefällt mir sein unterhaltsamer, gut verständlicher Erzählstil, der das Buch auch für passionierte Nicht-Gärtner lesenswert macht.

Das Buch ist auch als e-Book verfügbar.

Maude White: Die Weisheit des Rotkehlchens

Die junge amerikanische Papierkünstlerin Maude White porträtiert in ihrem neusten Buch verschiedene Vögel in Bild und einem kurzem Text. Dabei geht es jedoch nicht um die üblichen Merkmale wie Aussehen, Lebensraum, Futter oder Fortpflanzung, sondern um eine Charaktereigenschaft dieser Vögel. Von dieser leitet sie ab, was auch uns Menschen gut tun könnte, und verfasst kurze Botschaften zu Themen wie z. B. Austausch, Kreativität, Geduld oder Veränderung. Als Beispiel aufgeführt sei hier der Laubenvogel, der in Australien und auf Neuguinea lebt. Das Männchen baut mit grossem Aufwand aus feinen Ästchen richtige Lauben, die er anschliessend ausschmückt. Dabei wählt er häufig Objekte der gleichen Farbe. Maude White schreibt dazu: „Hör nicht auf, Räume zu schaffen, die dich glücklich machen! Wir alle sind Künstler und Schönheit zu kreieren, bringt uns Freude.“

Die Abbilder der Vögel hat Maude White auf weissem Papier skizziert und anschliessend mit einer Klinge ausgeschnitten. Auf diese Weise sind sehr filigrane und detailreiche Bilder entstanden, die man immer wieder gerne anschaut. Botschaften, die für meinen Geschmack die Tiere zu sehr vermenschlichen, kann man überblättern und sich ins nächste Porträt vertiefen. Ein Buch, das sich weniger zum Lesen als zum Schmökern und ganz sicher als schönes Geschenk eignet.

Christoph Biemann: Buchstabenzauber

Der leidenschaftliche Leser und Fernsehmoderator (Sendung mit der Maus) Christoph Biemann ist vielen Erwachsenen und Kindern bestens bekannt, wobei sein Schnauz und sein grüner Pulli sicher berühmter sind als sein Name. Neben der Wissensvermittlung im Fernsehen ist ihm ebenfalls die Begeisterung der Kinder fürs Lesen eine Herzensangelegenheit. In diesem Buch stellt er vor, wie er selber als Kind zum passionierten Leser wurde und seine Faszination für Bücher später seinen Kindern und Grosskindern weitergegeben hat.

Wie viele Eltern bereits erfahren mussten, sind nicht alle Kinder einfach für das Lesen zu gewinnen. Auch Christoph Biemann liefert keine schnellen Rezepte, sondern zeigt die Bedeutung von Zuwendung, Kreativität und Geduld auf. Einige Anregungen waren bereits bekannt, andere verursachten beim Selbstversuch grosse Heiterkeit und lösten weitere kreative Ideen aus.

Ein empfehlenswertes Buch für Eltern, die sich gerne die Zeit nehmen, mit ihren jüngeren und älteren Kindern in die Welt der Buchstaben, Wörter und Geschichten aufzubrechen.

März-Tipps von Irene Scheurer

Daniel Mason: Wintersoldat

Der ehrgeizige und hochbegabte Wiener Medizinstudent Lucius Krzelewski, Sohn aus einer reichen österreichisch-polnischer Familie, ist 22 Jahre alt, als der Erste Weltkrieg ausbricht. In der Hoffnung mit interessanten medizinischen Fällen konfrontiert zu werden, meldet er sich freiwillig zum Einsatz. Doch er wird nicht in ein gut eingerichtetes Lazarett eingeteilt, sondern in ein improvisiertes Hospital in einer Kirche in einem abgelegenen Dorf in den Karpaten. In der Realität des Krieges angekommen, merkt Lucius, wie weit Theorie und Praxis auseinanderklaffen und wie unerfahren er ist. Zusammen mit der jungen Nonne Magarete muss er die Verletzten versorgen und sie möglichst schnell wieder fronttauglich machen. Er lernt von ihr, mit den wenigen medizinischen Mitteln die Verletzten bestmöglich zu versorgen und Operationen - meist Amputationen – auszuführen. Seite an Seite kämpfen sie unter schwierigsten Umständen um das Überleben der verletzten Soldaten und verlieben sich ineinander. Doch eine folgenschwere Entscheidung um einen traumatisierten Wintersoldat beieinflusst ihre weiteren Lebenswege.

Jostein Gaarder: Genau richtig. Die kurze Geschichte einer langen Nacht

Albert erhält unerwartet die Diagnose, dass er an einer tödlichen Krankheit leidet. Die Nachricht erschüttert ihn und er weiss, dass nichts mehr so sein wird wie zuvor. Er zieht sich ins einsam gelegene Wochenendhaus am See zurück und sinniert über die Anfänge seiner Liebe, seine Ehe mit Eirin, über ihre gemeinsamen Pläne und Träume. Er ringt mit dem Gedanken, sein Leben selbst zu beenden, bevor es die Krankheit tut. In einer langen Nacht versucht er, mit sich ins Reine zu kommen und zu wertschätzen, was in seinem Leben genau richtig verlaufen ist.

Harald Lesch und Klaus Kamphausen: Wenn nicht jetzt, wann dann? Handeln für eine Welt, in der wir leben wollen

Der Klimawandel hat – wie wir alle wissen - dramatische Auswirkungen auf unseren Planeten und unser Leben. Nachrichten aus der ganzen Welt führen uns dies täglich vor Augen. Im Buch «Wenn nicht jetzt, wann dann?» geht es aber nicht nur um eine Bestandesaufnahme, sondern nach dem Motto «Verzagen gilt nicht» haben die Autoren Harald Lesch und Klaus Kamphausen zusammen mit verschiedenen Experten informative Vorschläge zusammengestellt, wie den prekären Umständen entgegengewirkt werden kann. Es sind Visionen, wie ökologisch richtiges Handeln und gedeihliches Zusammenleben aussehen kann.

Gemäss den Autoren ist es jedoch unbedingt notwendig, dass Regierungen, die Industrie sowie jeder einzelne Mensch sein Handeln reflektieren und ökologisch weitaus bewusster leben muss als bisher. Das Buch macht aber auch Mut, im Kleinen zu wirken, denn auch wer lokal tätig ist, kann global wirken.

Januar-Tipps von Ulla Schiesser

Sarah Kuttner: Kurt

Lena und Kurt - ein Paar mit Herausforderungen, denn zum „grossen Kurt“ gehört der „kleine Kurt“, ein Sechsjähriger, der zwischen seinen Eltern pendelt, eine Woche bei seiner Mutter lebt, dann wieder eine Woche bei Lena und Kurt. Das Paar ist aus Berlin weg in ein Haus auf dem Land gezogen, um nahe beim kleinen Kurt zu leben. Dort renovieren sie das Haus und bepflanzen den Garten, aber vor allem leben sie sich ein, in dieses seltsame „Patchwork“ genannte Gebilde, in dem jeder seinen Platz finden muss. Grossartig zeigt Kuttner auf, welche Fragen in solchen Konstellationen aufkommen, wenn die Erwachsenen denn bereit sind, darüber nachzudenken: Darf ich dieses Kind so sehr lieben? Wo mische ich mich ein? Ist es zu intim, mit nacktem Hintern herumzulaufen, wenn der Zwerg es sieht? Als sie sich gerade aneinander gewöhnen, passiert das Unfassbare: Bei einem ganz banalen Spielplatzunfall stirbt der wunderbare, kleine Kurt und die Trauer wütet im Leben der Erwachsenen. Kurt erstickt beinahe daran, trinkt, ist oft mit der Mutter des Jungen zusammen und Lena weiss weder ihm noch sich zu helfen. Wie kann man das aushalten, wie weitermachen? Gibt es noch ein wir und wo ist Platz für Lenas Gefühle? Was macht eine Familie aus, was eine Liebe? Zum Glück hat Lena, haben alle Figuren “a Herz wie a Bergwerk“ und es geht irgendwie, stolpernd, fallend, aber es geht. Davon erzählt Sarah Kuttner ganz geradeaus, manchmal schnodderig, aber im Untergrund schwingt eine zarte, innige Melodie, die den Text vielschichtig und lesenswert macht. 

Per Petterson: Männer in meiner Lage

Klug, schnörkellos und mit der ihm eigenen Melancholie beschreibt Per Petterson einen Mann in der Krise. Arvid - Sie kennen ihn vielleicht aus früheren Romanen -  hat bei einem Schiffsunglück Eltern und Bruder verloren. Kurz darauf verlässt ihn seine Frau mit den Töchtern. Sie hat neue Freunde, ein neues Leben gefunden, sich mit den „Farbenfrohen“ eingelassen, wie Arvid sie insgeheim nennt. Er verbringt seine Zeit mit langen Autofahrten und Ausflügen in die Stadt, sucht Kneipen auf, findet dort Frauen für eine Nacht, lässt sich treiben und gehen, ohne gegen seine existentiellen Nöte zu kämpfen. Seine einzigen vertrauten Freunde, so sagt er es einmal, seien seine Bücher: "Jeder Rücken eine Tür, die sich zu einem Leben öffnete, das nicht meins war, es vielleicht aber hätte sein können und es irgendwie doch war, denn ich hatte sie alle an einer Boje in meinem Herzen vertäut, jedes einzelne". Still und vorsichtig zieht Petterson seine Kreise um den Verletzten, für den es aber auch Hoffnung gibt.

Claire Lombardo: Der grösste Spass, den wir hatten

Diesen grossen, amerikanischen Familienroman habe ich mir mit grösstem Vergnügen angehört. Marilyn und David Sorensen, seit vierzig Jahren glücklich verheiratet, haben vier erwachsene Töchter, die eines gemeinsam haben: Sie scheitern an sich und ihren Vorstellungen von einem glücklichen Leben, die geprägt sind durch die scheinbar perfekte Ehe der Eltern. Wendy, früh verwitwet, tröstet sich mit Alkohol und jungen Männern. Violet, die Ehrgeizige, Strebsame, tauscht ihre Arbeit als Prozessanwältin gegen ein Dasein als perfekte Vollzeitmutter. Liza, die ebenfalls früh Karriere macht, lebt in einer schwierigen Beziehung mit einem depressiven Mann. Sie ist schwanger und muss Entscheidungen treffen. Und dann ist da noch die Jüngste, die sich in einem Netz aus Lügen verfangen hat, um den vermeintlichen Ansprüchen der anderen zu genügen und nicht weiss, wie sie da wieder herausfinden soll. Der Familienvulkan ist also schön am Brodeln, als Jonah in die Geschichte platzt, der verschwiegene, uneheliche Sohn von Violet, den sie fünfzehn Jahre davor zur Adoption freigegeben hatte.   

Juli-Tipps von Colette Fehlmann

Jewgeni Wodolaskin: Luftgänger

Ein Mann erwacht im Spitalbett ohne jegliche Erinnerung. Der Arzt lädt ihn ein, Tagebuch zu führen und Erinnerungs-Bruchstücke, die aufkommen, festzuhalten. Er will ihn bewusst nicht ‘informieren’ über seine Lebensumstände, damit er die Chance hat zu seiner authentischen Geschichte zurückzufinden. Das ist spannend wie ein Krimi und faszinierend in der Beschreibung der Erinnerungen, die fragmentarisch, aber ganz unmittelbar und sinnlich vor ihm und vor uns erstehen. Zauberhafte Bilder etwa aus der Kindheit im vorrevolutionären Russland.

Innokenti Platonow erfährt eine Zeitreise, als er, Jahrgang 1900, bei seinem Erwachen ins Jahr 1999 katapultiert wird. Was das mit seiner Deportation in die Straflager der Solowki-Inseln unter Stalin zu tun hat, sei hier nicht verraten.

Der zweite Teil widmet sich vor allem der gegenwärtigen Zeit und wird abwechselnd aus drei Perspektiven erzählt. Das geht nicht ohne satirisch-melancholische Schlaglichter auf die nachsowjetische Gesellschaft.

Es wäre kein russischer Roman, wenn nicht in philosophischen, auch selbstironisch-witzigen Dialogen zwischen dem «Patienten» Innokenti und seinem Arzt die russische Leidensgeschichte des 20. Jahrhunderts, das Verhältnis von Kunst und Erinnerung, von Wissenschaft und Religion, von Recht und Unrecht, das Glück und die Verlorenheit des Menschen verhandelt würden.

Jessica Braun: Atmen

Atmen ist eine Vitalfunkion – aber auch viel mehr! Es passiert nicht nur nebenbei, wir können den Atem variieren und nutzen und ihn und damit uns selbst unterschiedlich erfahren. Die Journalistin und Autorin Jessica Braun nimmt uns mit auf eine einzigartige Erkundungstour: Was passiert beim ersten Atemzug eines Neugeborenen? Wie kam der Sauerstoff evolutionsgeschichtlich überhaupt auf die Erde? Wie reagiert der Körper, wenn auf dem Mount Everest die Luft zu dünn wird? Wie wirkt Meditation, was verrät unsere Atemluft über unseren Gesundheitszustand und wie wird aus Atem das Wunderwerk Stimme? Der Schluss widmet sich sehr berührend auch unserem letzten Atemzug.

Bei allem Pathos, das das Thema in sich hat, und aller Menge an wissenschaftlichen Fakten schreibt die Autorin mit einer wohltuenden Portion Ironie, sehr locker und mit viel Sprachwitz. Die Atemübungen im Anhang laden dazu ein, das Gelesene an sich selber zu erproben.

Rose Ausländer: Wirf deine Angst in die Luft

Der Atem spielt eine zentrale Rolle auch im Werk von Rose Ausländer, der grossen jüdisch-deutschen Lyrikerin. Mein Atem heisst jetzt und Im Atemhaus wohnen heissen zwei ihrer Gedichtbände. Wie Paul Celan, dem sie einige Gedichte gewidmet hat, ist sie in Czernowitz in der Bukowina geboren. Als eine der wenigen ihrer Familie hat sie Ghetto und Deportation überlebt – als Nomadin zwischen Amerika und Europa und viele Jahre bis zu ihrem Tod 1988 in Deutschland.

Zum 20. Todestag ist dieses Hörbuch entstanden. Es verbindet ihre Lyrik mit Musik von Jan Rohlfing. Von Klezmer bis zu jazzigen Klängen begleiten und spiegeln Klarinette, Klavier, Schlagzeug, Cello u.a. die Gedichte wunderbar. Dazwischen hören wir Rose Ausländer im Originalton, wie sie ihre Lyrik und andere Texte liest. Sie handeln von Verlust und Trauer, aber auch von Liebe und Glück.

Ein Glück ist es auch, ihren Worten zu lauschen.

Mai-Tipps von Petra Schweizer

John Ironmonger: Der Wal und da Ende der Welt

Eines Tages überschlagen sich die Ereignisse im abgeschiedenen Fischerdorf St. Piran, irgendwo in Cornwall.

Ein riesiger Finnwal taucht an der Küste auf und kurz darauf wird ein nackter Mann am Strand angespült. Die Dorfbewohner eilen dem Halbtoten zu Hilfe und pflegen ihn wieder gesund. Als dann auch noch der Wal strandet, ist es ausgerechnet der Fremde, der eine Rettungsaktion startet und koordiniert. Unter grossen gemeinsamen Anstrengungen gelingt es den Einwohnern wie durch ein Wunder den Wal zurück ins Meer zu schieben.

Der junge Mann Joe Haak ist Mathematiker und arbeitet in einer Londoner Bank als Analyst. Er entwickelte ein Computerprogramm namens Cassie, das mithilfe weltweiter Wirtschaftsdaten Zukunftsprognosen erstellt. Alle durchgespielten Szenarien deuten auf das Ende der uns bekannten Welt hin. Als seine Firma aufgrund seiner Empfehlungen grosse Finanzielle Verluste einfährt, flüchtet er aus London und gerät bei einem leichtsinnigen Bad im kalten Ozean in Lebensgefahr.

Aufgenommen in die spezielle liebevolle Gemeinschaft der Dorfbewohner, beginnt Joe sich auf die Katastrophe vorzubereiten. Er legt im Kirchturm ein riesiges Lager haltbarer Lebensmittel an.

Cassie geht davon aus, dass der Mensch, wenn die Krise kommt, egoistisch handelt und auf der ganzen Welt kämpfe ausbrechen. Doch anders als prognostiziert, setzen sich Menschlichkeit und Altruismus gegen Egoismus durch. Mit seinem philosophischen, mit englischem Humor gespickten, Roman zeigt John Ironmonger eindrücklich, wie eine Gemeinschaft mit Zusammenhalt und Hilfsbereitschaft selbst das Ende der Welt überstehen kann.

Ein hervorragendes Buch, das zum Nachdenken und immer wieder Lesen einlädt.

Gena Showalter: Immerwelten - Der Anfang (Band 1)

Tenley ist 17 Jahre alt und sitzt in der Psychiatrie. Nicht weil sie geisteskrank ist, sondern weil sie sich gegen die Wünsche ihrer Eltern sperrt. Sie muss sich bis zu ihrem 18. Geburtstag entscheiden, in welche der beiden verfeindeten Nachwelten sie nach ihrem Tod eintreten wird. Nach Myriads Überzeugung ist Macht gleich Recht und sie versprechen ihren Anhängern Ruhm und Reichtum im ersten Leben. In Troika ist jeder gleich und Liebe und Gemeinschaft stehen über allem.

Als Anhänger Myriads haben Tenleys Eltern grossen Reichtum und einflussreiche Positionen erhalten, die sie verlieren, wenn sie ihre Tochter nicht dazu bringen, ebenfalls bei Myriad zu unterschreiben. Dazu scheint ihnen jedes Mittel recht zu sein, selbst die grausamen Umerziehungsmethoden der Anstalt.

Mit Hilfe zweier Mitinsassen gelingt Tenley die Flucht. Ein aufreibendes Abenteuer beginnt, bei dem jede Seite hart dafür kämpft, die junge Frau für sich zu gewinnen. Wie sich herausstellt, sind ihre beiden Fluchtgefährten Agenten aus der Nachwelt, die auf sie angesetzt wurden, um sie auf die «richtige» Seite zu ziehen. Auch Tenley kämpft mit sich: Geht es ihr wirklich nur um den freien Willen oder fürchtet sie sich davor, eine Entscheidung zu treffen? Welcher Weg ist der richtige? Welche Konsequenzen ist sie bereit zu tragen? Gibt es überhaupt eine Wahrheit, oder ist sie nur eine bequeme Ausrede, um nicht genauer hinschauen zu müssen?

Gena Showalter ist vor allem für ihre Romantasy für Erwachsene bekannt. Mit der Immerwelt-Trilogie zeigt sie aber deutlich, dass sie sich auch durchaus auf ernsthaftere Themen versteht. Mit einer völlig neu gedachten Nachwelt-Dystopie wagt sie sich an eine wertfreie Sicht auf moralische Zwiespälte, religiöse Dogmen, Fanatismus und blinden Gehorsam. Trotz des actionreichen Tempos lässt die Geschichte immer wieder Platz für Nachdenken und Selbstreflektion. Wie nicht anders erwartet, hat sie auch hier wieder sehr präsente, vielschichtige und starke Charaktere geschaffen, die trotz aller seelischen Narben die Kraft zur Liebe finden.

Agnieszka Hollend: Die Spur (DVD)

In einem kleinen abgelegenen Bergdorf im Südwesten Polens sind alte Gepflogenheiten noch fest verwurzelt und geraten immer häufiger in Konflikt mit den Ansichten der modernen Welt. Frauen haben hier wenig zu melden. Der Ort wird von den wohlhabenden Männern regiert. Korruption ist an der Tagesordnung, ihre Freizeitvergnügen sind gemeinsame Jagden, bei denen sie zum Spass Tiere töten.

Als nacheinander mehrere dieser Männer grausamen Morden zum Opfer fallen, entdeckt die Polizei auffällige Tierspuren bei den Leichen. Wurden die Wildtiere so lange getötet, gequält und gehäutet, bis sie schliesslich zurückschlugen? Ein Verdacht, der von der exzentrischen Einzelgängerin Janina Duszejko (Agnieszka Mandat-Grabka) vehement vertreten wird. Der tierliebenden Dorflehrerin sind die Jagdgesellschaften mit ihrer rücksichtslosen, machohaften Zurschaustellung der Kadaver zuwider. Als ihre beiden Hunde spurlos verschwinden, ist sie sich sicher, dass die Jäger dahinterstecken. Sie plädiert für ein sofortiges Jagdverbot, um das sinnlose Töten zu beenden und das mysteriöse Unheil vom Dorf abzuwenden. Als renitente und wahnhafte Alte abgetan, wird sie von der örtlichen Polizei nicht ernst genommen, bis sie schliesslich selber ins Fadenkreuz der Ermittler gerät.

Der Film erscheint zu Anfang wie einer jener düsteren skandinavischen Krimis, mit abgründigen verdorbenen Charakteren, kühlen trostlosen Landschaften und einem guten Schuss Mystik. Allerdings wandelt er sich zu einem immer hoffnungsvolleren Ende hin, das schon fast utopisch anmutet. Mit jedem grausigen Mord erscheinen neue positivere Figuren auf der Bildfläche, die Janina in ihrem Kampf gegen das sinnlose Töten unterstützen. Hält man sie am Anfang noch für leicht verrückt, gerät man doch bald in den Bann ihrer unerschütterlichen Menschlichkeit.

Die Verfilmung von Olga Tokarczuks Thriller «Der Gesang der Fledermäuse» ist in vielerlei Hinsicht aussergewöhnlich - nicht zuletzt wegen des provokant-schönen Endes.

März-Tipps von Pia Kinner

Mick Herron: Slow Horses

Der zum Spion ausgebildete River Cartwright hat in seiner Karriere beim britischen Inlandsgeheimdient MI5 einen einzigen Fehler begangen, einen entscheidenden jedoch. Er wird aufgrund dieses Missgeschicks ausgemustert und nach Slough House versetzt. In diesem herunterkommen Haus arbeiten Männer und Frauen, die Rivers Schicksal teilen, auch sie standen im Dienst von MI5 und wurden nach einem Fehltritt strafversetzt. Trotz ihrer hervorragenden Ausbildung erhalten sie nervtötend langweilige Drecksarbeiten. Die Stimmung im Team ist mies. Ihr Vorgesetzter, Jackson Lamb, befehligt die Truppe. Seine Rolle wird im Laufe der Handlung zunehmend unklarer, ist er wirklich der schäbige Vorgesetzte, der nur an seinem eigenen Vorteil interessiert ist?

Die Entführung eines muslimischen Jungen, dessen Enthauptung live gestreamt werden soll, bringt die Gefüge des Teams durcheinander. Mick Herron siedelt seinen Spionageroman am Rand der Gesellschaft an und lenkt damit den Fokus auf Menschen, die gestrauchelt sind. Ein spannender, gut geschriebener Spionageroman.

Shanbhag Vivek: Ghachar Ghochar

Der indische Ingenieur Vivek Shanbhag nimmt die Lesenden mit in seine Heimat Indien mit. Die Familie des Teehändler kommt mehr schlecht als recht über die Runden. Das Geld wird in die Ausbildung seines Bruders gesteckt. Als dieser in den Grosshandel mit Gewürzen einsteigt, wird die Familie praktisch über Nacht reich. Sie wechselt Wohngegend und Bekanntenkreis. Der finanziellen Sicherheit und dem damit verbundenen sozialen Aufstieg der Familie fällt die Moral zum Opfer. Die in die Familie einheiratende Anita wagt, an der glänzenden Oberfläche zu kratzen und die unangenehmen Fragen zu stellen.

Einerseits spiegelt diese Geschichte die Entwicklung Indiens wieder, anderseits ist sie allgemeingültig und bringt uns immer wieder zurück zur Frage: Welchen Stellenwert will ich dem materiellen Erfolg zugestehen? Eine eindringlich geschriebene Familiengeschichte aus dem heutigen Indien.

Matt Haig: Wie man die Zeit anhält

Schlappe 439 Jahre alt ist der Ich-Erzähler dieses Buches Tom Hazard. Die Langlebigkeit bringt zwar Vorteile mit sich, etwa wenn man wie Tom Hazard als Geschichtslehrer arbeitet und beneidenswert lebendig von viel früheren Zeiten erzählen kann. Ebenso hat er verschiedene historische Persönlichkeiten wie beispielsweise die Schriftsteller Shakespeare oder Scott F. Fitzgerald kennengelernt und sich eine tiefe Menschenkenntnis angeeignet. Doch die Nachteile sind mindestens eben so gewichtig: alle acht Jahre muss Tom Hazard eine neue Identität annehmen und seine Erlebnisse häufen sich schwer in seinem Gedächtnis an und verursachen häufige Erinnerungs- oder Lebensschmerzen. Seine soziale Einsamkeit wird gekrönt von Regel Nummer eins: Verliebe dich nicht!

Leichtfüssig lässt Matt Haig die Lesenden teilnehmen an einem Streifzug durch 400 Jahre Weltgeschichte und 400 Jahre Leben inklusive der Zutaten Abenteuer, Freundschaft, Liebe und Familie. Ein Buch, das sich hervorragend eignet, die sonnigen Frühlingstage im Lesestuhl zu verbringen.

Januar-Tipps von Rahel Buchter

Francesca Melandri: Alle, ausser mir

Dieses Buch ist das Produkt einer 10-jährigen Recherche- und Schreibarbeit, in welchem die Autorin ein dunkles Kapitel der italienischen Kolonialgeschichte beleuchtet. Sie spannt den Bogen vom Abessinienkrieg im Ostafrika der 30er-Jahre bis zur aktuellen Flüchtlingsproblematik und zeigt auf, wie stark beides miteinander verknüpft ist.
Die Geschichte beginnt 2010 in Rom, wo die 46-jährige Lehrerin Ilaria vom Besuch eines jungen Äthiopiers überrascht wird, welcher behauptet, ihr Neffe zu sein. Sie forscht nach und stösst auf einige Ungereimtheiten im Leben ihres Vaters. Bislang hatte sie immer geglaubt, er hätte während des 2. Weltkrieges für die Partisanen gekämpft. In Wahrheit aber war er ein überzeugter Vertreter der faschistischen Rassenlehre und zu dieser Zeit in Ostafrika stationiert gewesen. Dort hatte er während des Krieges mit einer einheimischen Frau zusammengelebt und einen Sohn gezeugt…
Frau Melandri schreibt gegen die Verdrängung an.

Sie ist eine präzise Erzählerin, die der Sache auf den Grund geht und man erfährt einiges über diesen völkerrechtswidrigen Krieg, der etwa 750'000 Todesopfer forderte, darunter sehr viele Frauen und Kinder.
Kein Buch, das sich einfach so nebenbei lesen lässt. Unter anderem auch, weil es neugierig macht und zu eigenen Recherchen animiert.

Spike Lee: Blackkklansman (DVD)

Eine zweite Chance für diejenigen, welche die Filmvorführung im Kinofoyer Lux verpasst haben!
Colorado Springs, 1972: Ron Stallworth erhält als erster Schwarzer eine Stelle als Polizist und beginnt bald darauf, den Ku-Kluks-Klan zu unterwandern, indem er sich beim Klan bewirbt und mit dessen Mittelsmännern in telefonische Verbindung tritt. Als er sich dann leibhaftig vorstellig machen müsste, springt sein von der Hautfarbe her weniger verdächtige jüdische Kollege Flip, ebenfalls ein Undercover-Polizist, ein…
Der Film beruht auf den autobiografischen Aufzeichnungen von Ron Stallworth. Er kommt ganz leichtfüssig, mit teils deftigem Humor erzählt daher und das Ganze wirkt wie ein sympathischer Schelmenstreich. Trotzdem verliert Spike Lee nie den Ernst der Sache aus den Augen und nimmt ganz klar Bezug zur aktuellen politischen Situation.
Ausstattung, Mode und Frisuren in wunderschönster 70er-Jahr-Manier.
Besetzung und Musik sind vom Feinsten. Ein Film, den man sich gerne immer wieder mal anschaut.

Wolf Haas: Junge Mann

Ebenfalls in den 70er-Jahren, aber diesmal im ländlichen Österreich, ist dieser autobiografisch gefärbte Roman angesiedelt:
Ein leicht übergewichtiger Teenager jobbt während seiner Internatsferien an einer Tankstelle. Dabei lernt er die um einige Jahre ältere und mit dem Fernfahrer Tscho verheiratete Elsa kennen, verliebt sich in sie und beschliesst kurzerhand, sich einer strengen Diät zu unterziehen…
Wolf Haas lässt uns rückblickend in die Erlebniswelt eines liebenswerten, intelligenten und manchmal sehr einfach zu verunsichernden 13-Jährigen eintauchen.
Die Geschichte ist Sozialstudie und Road-Trip zugleich. Zudem ist sie charmant, warmherzig, raffiniert und mit Schmäh erzählt. Einfach wunderbar.

November-Tipps von Ulla Schiesser

Delphine de Vigan: Loyalitäten

Vierstimmig wird in diesem schmalen, dichten Roman von einem unauffälligen 12-Jährigen erzählt, der zwischen seinen getrennten Eltern laviert und wöchentlich pendelt. Theo muss mit der Verbitterung und Stummheit seiner Mutter klarkommen und mit dem rasanten, sozialen Abstieg seines arbeitslosen, vereinsamten und apathischen Vaters. Er geht mit beiden loyal und liebevoll um, spricht mit niemandem über die familiäre Misere und weicht dem unerträglichen Druck aus, indem er sich immer wieder heftig betrinkt, sich an den Rand des Bewusstseins säuft und hofft, die Geräusche in seinem Kopf und seine Gedankenkreise würden sich durch den Alkohol beruhigen.

Helène, seine Lehrerin, beobachtet den Rückzug des stillen Jungen mit diffuser, aber heftiger Sorge. Sie verhält sich wunderbar unprofessionell und mischt sich ein, wobei sie Ansehen und Beruf riskiert, um an das Kind heranzukommen.

Mathis, Theos Freund, hält lange Zeit mit bei den Trinkspielen im Geheimen, aber er fängt an zu begreifen, dass die Kurve steil nach unten führt und sorgt sich um Theo, will ihn aber nicht verraten.

Die vierte Erzählstimme gehört der Mutter von Mathis, die aus der Ferne misstrauisch über die innige Freundschaft der beiden Jungs wacht. Sie spürt, dass etwas im Argen ist, ohne genau zu wissen was. Ihre Ehe ist in einem desolaten Zustand und sie führt unglaublich schräge, aber ergreifende Selbstgespräche.

Delphine de Vigans Bericht über die Schäden, die Menschen aneinander nehmen können, ist sehr einfühlsam und radikal und das eindrücklichste Buch, das ich 2018 gelesen habe.

Emily Friedlund: Eine Geschichte der Wölfe

Ein eindrücklicher Erstling der jungen Autorin, die in Minnesota, an der Grenze zu Kanada, aufgewachsen ist. Dort ist dann auch die Geschichte der 14-jährigen Linda angesiedelt. In der Schule ist sie eine Aussenseiterin, die sich in Phantasien und in heftiger Zuneigung zu ihrem Lehrer und einer Klassenkameradin verstrickt und bitter enttäuscht wird. Von ihren alternden Hippie-Eltern bekommt sie weder Halt noch viel Wärme, denn die sind damit beschäftigt, ihre Träume vom besseren Leben in einer Kommune zu begraben und zu überleben. Linda streift durch die Wälder, schwimmt in kalten Seen, fischt, und die Natur ist ihre unerbittliche Erzieherin. Eine neu zugezogene Familie durchbricht die Isolation des Mädchens. Sie engagieren sie als Babysitterin, gewähren ihr nach und nach Familienanschluss und Linda fühlt sich endlich aufgehoben. Dass etwas oder vieles in dem Familiengefüge nicht in Ordnung ist, spürt sie schnell. Das Kind ist seltsam altklug und herrisch, die Mutter unsicher, der Vater ist Mitglied einer Sekte, mal von kalter, starrer Frömmigkeit, dann wieder wohlwollend und freundlich zu Linda. Als der Junge schwer erkrankt, kommt es zu einer Katastrophe, die Lindas restliches Leben beeinflussen wird. 

Die Geschichte der Wölfe ist ein feines, ruhiges, manchmal unheimliches Buch, in aussergewöhnlich schöner Sprache und Übersetzung.

Abchordis Ensemble: Dies irae (CD)

Das junge Basler Ensemble, das sich der alten Musik verschrieben hat, hat seine zweite CD veröffentlicht. Unter der Leitung von Andrea Buccarella, dem Dirigenten, Organisten und Cembalisten, präsentiert Abchordis wunderbare Barockmusik aus dem alten Neapel, instrumental und vokal. Eine CD, die Sie sich an einem der kommenden, kalten Abende anhören sollten; wärmend und aufregend zugleich. 

September-Tipps von Irene Scheurer

Philippe Claudel: Die Kostbarkeit des flüchtigen Lebens

Der Erzähler, ein fünfzigjähriger Filmemacher, erfährt nach einer Reise überraschend von der Krebserkrankung seines besten Freundes Eugène. Der lebenslustige Filmproduzent, der fünf Kinder aus verschiedenen Beziehungen hat, glaubt, die Krankheit besiegen zu können – doch sie kehrt zurück und kurze Zeit später stirbt er.

Der Abschied von Eugène, mit dem sich der Erzähler zutiefst verbunden fühlt, wird für ihn zum Anlass, über die wichtigen Fragen des Lebens nachzudenken.

Es ist ein Buch der leisen Töne und der grossen Gedanken. Leben und Tod, die beiden Pole des Daseins, tauchen in der tiefsinnigen Gedankenreise des Erzählers immer wieder auf und regen zum eigenen Nachdenken an. Ein Buch, das einen trotz des sehr ernsten Themas eine grosse Dankbarkeit spüren lässt.

Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann

Immer, wenn die alte Selma aus Westerwald von einem Okapi träumt, stirbt jemand im Dorf innerhalb des nächsten Tages. Unklar ist jedoch, wen es treffen wird. So versuchen alle, in dieser Frist endlich das auszusprechen und zu regeln, was sie ihr Leben lang bisher versäumt haben.

Die Geschichte wird aus der Perspektive der zu Beginn des Buches 10-jährigen Enkelin Louise erzählt und zeichnet ein Porträt eines kleinen, ländlichen Dorfes mit skurrilen Persönlichkeiten, die einem immer mehr ans Herz wachen. Alle fühlen sich untereinander – trotz Widrigkeiten und Eigenheiten – stark verbunden.

Als Erwachsene macht auch Louise die Erfahrung, dass die Liebe verschlungene Pfade geht und scheinbar die ungünstigsten Bedingungen wählt. Der Titel des Buches zeigt auf, dass vom eigenen Standpunkt aus nie alles sichtbar und in seiner Bedeutung offenbar werden kann.

Ein märchenhaftes, feinfühlig geschriebenes Buch.

Erwin Messmer: Nur schnell das Glück streicheln

Was ist Glück? Dieser Frage geht der in Bern lebende Autor und Organist Erwin Messmer in seinem neusten Lyrikband nach. Er spürt Glücksmomente im Alltäglichen auf und fasst sie in Worte. Es sind flüchtige Glanzpunkte des Lebens, die in vielerlei Gestalt auftreten können: als leuchtendes Herbstblatt, als Reh, als Sprung ins glitzernde Wasser des Flusses, als Musikstück und verborgene Sehnsucht.

Erwin Messmer tastet die Wörter nach verschiedenen Bedeutungen ab und mag es, sie in ungewohnte Zusammenhänge zu stellen, sodass plötzlich zwischen den Zeilen ungewohnte, neue Wirklichkeiten aufleuchten.

Eine Wirklichkeit, die immer wieder aufblitzt, ist die schmerzliche Erkenntnis, dass das Glück vergänglich ist.

Matthew Johnstone: Den Geist beruhigen. Eine illustrierte Einführung in die Meditation

Das schlanke, schön gestaltete Büchlein „Den Geist beruhigen“ von Matthew Johnstone lässt die Lesenden teilhaben an seinen Erfahrungen, wie es ihm gelungen ist, das Gedankenkarussell zu stoppen, den Geist zu beruhigen und am Ende mit positiven Gedanken zu füllen.

Mit wenigen Worten macht Matthew Johnstone das Vorgehen der Zentrierung und Achtsamkeit verständlich und zeigt Möglichkeiten auf, sie in den eigenen Alltag zu übertragen. Die witzigen und anschaulichen Illustrationen bringen die Aussagen auf den Punkt und laden zum Üben ein.

Juli-Tipps von Rahel Buchter

John Carrol Lynn: Lucky (DVD)

Der Schauspieler Harry Dean Stanton als 90-Jähriger in seiner letzten grossen Rolle; er verstarb kurz nach den Dreharbeiten. Bisher war sein Gesicht vor allem aus "Paris, Texas" sowie aus diversen Nebenrollen bekannt. In dem Regiedebut von John Carrol Lynch spielt er einen alten Mann namens Lucky, einen in der Wüste lebenden Eigenbrötler, der nicht einsam, aber gern allein ist. Seine Tage sind von den immer gleichen Ritualen geprägt: Erst rasiert und wäscht er sich, kämmt sorgfältig sein schütteres Haar, trinkt Kaffee, macht seine fünf Yoga-Übungen, gönnt sich dazwischen einen Zug seiner im Aschenbecher dahinglimmenden Zigarette und danach ein Glas Milch. Später löst er Kreuzworträtsel, hält sich in einem seiner Stammlokale im Kaff auf, wo man ihn kennt und schätzt, trinkt einen Bloody Mary oder sieht sich laut mitratend im Fernsehen eine Quiz-Sendung an. Bis er eines Morgens überraschend einen Schwächeanfall erleidet und sich mit seiner Sterblichkeit und philosophischen Sinnfragen auseinanderzusetzen beginnt. Trotz - oder gerade wegen - der vielen lakonischen Dialoge und skurrilen Figuren ein zarter, berührender Film. Eine Hommage an Harry Dean Stanton, an die Filmkunst und an das Leben. Selten hat man ein schöneres Lächeln auf der Leinwand gesehen als seines.

Fernando Aramburu: Patria

Ein grossartiges Buch! Der Autor ist im Baskenland aufgewachsen und hat den Terror hautnah miterlebt. Anhand der Geschichte zweier baskischer Familien, angesiedelt im selben fiktiven Dorf, spiegelt Fernando Aramburu wider, wie sich das Leben zu Zeiten der ETA für die Bevölkerung angefühlt haben könnte. Dabei bewegt er sich sprachlich virtuos zwischen verschiedensten Erzählperspektiven, lässt sowohl Opfer wie Täter zu Wort kommen und springt in der zeitlichen Abfolge immer wieder vor und zurück, bis sich einem allmählich die Handlung des 700-Seiten-Romans erschliesst und die Figuren an Tiefe und Schärfe gewinnen.

Amy Liptrot: Nachtlichter

Autobiografischer Bericht einer Journalistin über Sucht und Heilung. Als Farmerstochter unter familiär schwierigen Verhältnissen auf den Orkney Inseln aufgewachsen, verschlägt es Amy Liptrot mit Anfang zwanzig nach Edinburgh und London, wo sie sich ins Partyleben stürzt. Die Stadt überfordert sie und der Konkurrenzdruck im Job ist riesig. Sie flüchtet sich in den Alkohol und verliert immer wieder von neuem Arbeit, Wohnung und Freunde. Zehn Jahre später kehrt sie nach einer mehrmonatigen Entziehungskur auf die Orkneys zurück, bewohnt ein einfaches Cottage auf der Insel Papa Westray und findet einen Job als Vogelwartin. Durch die Nähe zur Natur und die intensive physische Erfahrung der Elementarkräfte gelingt es ihr - immer im Bewusstsein des nahen Abgrundes - wieder zu ihrer inneren Ruhe zu finden und Fuss zu fassen im eigenen Leben. Sie schwimmt täglich im eiskalten Wasser, wandert bei jeder Witterung, setzt sich Wind und Regen aus, beobachtet Vögel, schnorchelt, sucht nach "Merry Dancers" (Polarlichter), beschäftigt sich mit Astronomie, Nautik und eignet sich ein grosses Wissen über Geschichte und Mythen der Inseln an. Ausserdem nimmt sie aktiv am Leben der kleinen Inselbewohnergemeinschaft teil. Ein kraftvolles Buch, das Lust auf Naturerfahrungen und ein einfaches, ruhiges Leben macht.

Ralf Rothmann: Der Gott jenes Sommers

Deutschland, 1945: Einerseits wird von Flüchtlingen, Verwundeten und Versehrten das Kriegsende herbeigesehnt wird, andererseits herrscht noch immer ein verbissenes Nazitum, welches am Glauben an den baldigen Endsieg festhält. Hauptfigur ist die 12-jährige Luisa, ein starkes, integres Mädchen, das einem trotz apokalyptischer Stimmung Hoffnung gibt und an das Gute im Menschen glauben lässt. Luisas Kraftquelle sind ihre Bücher. Sie liest sich quer durch die Klassiker, mag Karl May, Cervantes, Bronte, Mitchell. Zusammen mit Mutter und Schwester ist sie aus dem zerbombten Kiel aufs Landgut ihres Schwagers, eines SS-Offiziers, geflohen, wo versucht wird, den Schein zu wahren und einen einigermassen normalen Alltag aufrecht zu halten… Obwohl die Geschichte in einer tristen Zeit spielt, habe ich auch dieses Buch von Ralf Rothmann wieder mit grossem Genuss gelesen. Er pflegt einen sehr bildhaften, lustvollen Erzählstil. Mag sein, dass seine Figuren manchmal etwas überzeichnet daherkommen – das verzeih ich ihm gern. Mit diesem Buch knüpft er übrigens an den Roman "Im Sommer sterben" an, welcher im selben Jahr spielt.

Mai-Tipps von Petra Schweizer

Isabell May: Close to you (für Jugendliche zwischen 13 und 16 Jahren)

Violet und Aiden fühlen sich von ihren Eltern und Freunden missverstanden, verraten und alleingelassen. In sich selbst zurückgezogen haben beide grosse Mühe, anderen zu vertrauen und sich zu öffnen. Um vor ihren Problemen zu fliehen, bewirbt sich Violet an einem weit entfernten College und Aiden kapselt sich von seiner Umwelt ab. Doch die Angst und die Wut lassen sich nicht so einfach abschütteln.

Violet getraut sich kaum unter Menschen. Sie fühlt sich verfolgt und leidet unter schweren Panikattacken. Trotz seiner feindseligen und wortkargen Art fühlt sie sich zu Aiden hingezogen. Es entsteht eine komplizierte Beziehung, in der sich keiner dem anderen öffnen will. In ihrem Versuch, dem anderen zu helfen, finden sie langsam zu sich selbst und entdecken den Mut, sich ihren Problemen zu stellen.

Mit "Close to you" hat Isabell May einen wunderschönen, romantischen Collegeroman geschrieben. Es ist eine feinfühlige Geschichte darüber, was passiert, wenn junge Menschen ihren Rückhalt und ihr Vertrauen verlieren.

Colleen Hoover & Tarryn Fisher: Never never (Jugend 13 bis 16 Jahre)

Charlie und Silas möchten sich nur zu gern daran erinnern, wie es sich anfühlt, einander zu lieben, aber sie haben jede Erinnerung an ihre bisherige Beziehung und auch an ihr ganzes Leben verloren. Sie wissen weder wo, noch wer sie sind.

Gemeinsam versuchen sie, das Rätsel um ihren gemeinsamen Erinnerungsverlust zu lösen. Doch es ist nicht einfach, sich seiner eigenen und doch so fremden Vergangenheit zu stellen und zu erkennen, wer man war und wie einem die anderen gesehen haben. Es stellt sich die Frage, will man sich überhaupt an alles erinnern? Will man wieder Charlie und Silas sein? Und was hat der Streit zwischen ihren Familien mit der ganzen Sache zu tun? Wieso sitzt Charlies Vater im Gefängnis und weshalb ist sie bei Silas zu Hause nicht mehr willkommen?

Doch gerade als sich das Puzzle langsam zusammensetzt, geschieht es wieder und dieses Mal ist Charlie verschwunden.

Mit diesem Jugendroman ist Colleen Hoover in Zusammenarbeit mit Tarryn Fisher erneut ein Meisterwerk gelungen. Die romantische Story ist packend bis zum Schluss und macht Lust auf mehr.

Karls Olsberg: Boy in a white room (Jugend 13 bis 16 Jahre / nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis)

Wo bin ich? Dies ist sein erster bewusster Gedanke. Ein Junge wacht in einem weissen Raum, ohne Fenster und Türen auf. Er hat keine Erinnerung an sich selbst. Er kann weder fühlen noch riechen und wenn er spricht, erklingt eine emotionslose Computerstimme.

Sein einziger Kontakt zur Aussenwelt ist eine weibliche Stimme, die sich als Alice vorstellt und mit deren Hilfe er sich frei im Internet bewegen kann. Stück für Stück findet Manuel heraus, wer er ist und was mit ihm passiert ist. Er erfährt von der missglückten Entführung, bei der er lebensgefährlich verletzt wurde und lernt seinen Vater kennen, der sein schwer beschädigtes Gehirn mithilfe von Computertechnologie zu retten versucht.

Doch was ist das für ein Leben, in dem andere uneingeschränkte Macht über ihn haben? Wenn alles, was er sieht, von anderen programmiert wird, was ist dann real? Wem kann er trauen? Existiert überhaupt irgendetwas von dem, was er glaubt, und wer ist Manuel eigentlich wirklich? Nur eines ist für ihn ganz klar: Ich denke, also bin ich.

Karl Olsbergs Roman "Boy in a white room" ist zu recht für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Es ist ein packender Thriller, der sich auf philosophische Weise mit den Gefahren und den Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz beschäftigt.

März-Tipps von Colette Fehlmann

Teodor Currentzis und MusicAeterna: P. I. Tschaikowsky, Sinfonie Nr. 6

Die ‘Pathétique’, Tschaikovkys 6. und letzte Sinfonie, 1893 ein paar Tage vor dem Tod des Komponisten unter seiner eigenen Leitung uraufgeführt, enthält alles, was ein Menschenleben an Verzweiflung und Schönheit erfahren kann. Wie dies der griechisch-russische Dirigent Teodor Currentzis mit seinem Orchester MusicAeterna hörbar und erfahrbar macht, ist von einer zupackenden Dringlichkeit, die einem den Atem raubt. Er setzt musikalische Akzente wie Messerstiche, das Allegro des 1. Satzes ist ein Orkan, der alles in den Abgrund zu reissen droht. Es folgt die unendliche Leichtigkeit im walzerartigen 2. Satz, ein reiner Tanz, den der Dirigent mit seinem Orchester in Szene setzt. Was für eine Trauer und was für eine nicht abbrechen wollende Steigerung schliesslich im Finale. Adagio lamentoso, deren Posaunentöne einen zerreissen – im Wechsel mit unendlicher Ruhe, Klarheit, Schönheit, dem Pochen eines Herzens, einem aufseufzenden Atmen.
Diese CD-Aufnahme ist ein unerhörtes Hör-Erlebnis, wie jede weitere Aufnahme und jeder Auftritt von Teodor Currentzis.

Schafe - Ein Portrait von Eckhard Fuhr (Naturkunden Nr. 31)

‘Naturkunden’ ist eine Reihe wunderschön gestalteter Bücher, herausgegeben von Judith Schalansky. Die bibliophilen Einzelbände widmen sich je einem Tier, einer Pflanze und allen möglichen Naturerscheinungen und ihrem Verhältnis zum Menschen. Im Bändchen ‘Schafe’ erzählt uns der Autor in einer für die Reihe typischen Natur- und Kulturgeschichte zunächst, wie Mensch und Schaf zusammenkamen. Von da geht’s direkt zur religionsgeschichtlichen Überhöhung des Lammes zum Agnus Dei als Symbol für den gekreuzigten Christus. Spannend wiederum, wie es dazu kam. Das Wiederauftreten des Wolfes in unseren Zonen darf nicht fehlen – ein Ereignis von grosser Tragweite! Mit viel Witz, Empathie und sozialhistorischem Wissen zieht so der Autor mit uns und den Schafen durch die Jahrhunderte. Eines der für mich schönsten Kapitel ist dem System «Schaf-Schäfer-Hütehund» und der einzigartigen Beziehung untereinander gewidmet. Schliesslich zeigt uns Eckhard Fuhr, wie wir mit Schafen klug werden. Das Schaf lehrt uns einen klugen Blick auf die Mechanismen der globalisierten Agrarindustrie. Den Schlussteil des Büchleins bildet eine Reihe schön bebilderter Portraits verschiedener Schafarten mit Karten zu ihrem geografischen Vorkommen.
Ein Büchlein, das Lust macht auf mehr NATURKUNDEN!

Bernhard Kegel: Die Herrscher der Welt. Wie Mikroben unser Leben bestimmen

Anlässlich der Neugestaltung unserer Abteilung Naturwissenschaften kommt es zu vielerlei Neuentdeckungen: Bernhard Kegel, promovierter Chemiker und Biologe, war als Forscher, als ökologischer Gutachter und Lehrbeauftragter tätig. Seit 1993 ist er auch Romanautor, weiterhin Wissenschaftspublizist – und Jazzmusiker. Das auf den ersten Blick etwas sperrige Thema ‘Mikroben’ entpuppt sich als hochspannende Lektüre, die einen von der ersten bis zur letzten Seite in Staunen versetzt. Er erzählt uns vom spektakulären und unverzichtbaren Zusammenleben von Lebewesen, wie u.a. dem Menschen, mit ihren mikrobiellen Bewohnern. Erst neueste Technologien machen es möglich, diese bisher weitgehend unsichtbare Welt zu entschlüsseln. Kein Lebewesen ist mit sich allein, sondern besiedelt von Abertausenden von uralten Mikroorganismen, die wir lange primär als Krankheitserreger wahrgenommen haben, mit denen wir aber vielfältigste Kooperationen und Symbiosen eingehen. Und wir tun gut daran, unsern mikrobiellen Partnern nicht zu grossen Schaden zuzufügen!
Nach dieser überaus lehrreichen und anregenden Lektüre greife ich als nächstes zu seinem Wissenschaftsthriller «Abgrund», der vor der Kulisse der Galapagos-Inseln spielen soll.

Januar-Tipps von Pia Kinner

Noah Trevor: Farbenblind

Von einem ausgestellten Buch lächelt mich verschmitzt ein junger Mann an. Es ist Trevor Noah, der in diesem Buch die Geschichte seiner Kindheit und Jugend in Südafrika erzählt. Er hat das grosse Pech, dass er während dem Apartheid-Regime als Sohn eines Schweizers und einer farbigen Südafrikanerin geboren wird. Eine derartige Verbindung war zu damaliger Zeit gesetzlich verboten: „Während die meisten Kinder ein Beweis für die Liebe ihrer Eltern sind, war ich der Beweis ihrer Kriminalität.“

Somit startete der Junge mit dem Handicap einer verbotenen Hautfarbe und keiner eindeutigen ethnischen Zugehörigkeit ins Leben. In dramatischen Worten schildert Trevor Noah seine Erlebnisse und beschreibt mit Klarheit und Humor die nachhaltige Wirkung der Rassentrennung. Er zeigt die Möglichkeiten auf, die Angehörigen der mittellosen Unterschicht offen stehen. Dank seiner Intelligenz, seiner beharrlichen Mutter und wohl der einen oder anderen Prise Glück gelingen ihm der Aufstieg aus seiner Herkunftsschicht und der soziale Aufstieg. Mittlerweile ist er auch in der Schweiz als geistreicher Politkommentator und Comedian berühmt.

Hedingen 2017. Unsere Werkhofmitarbeiter

Der Gemeindeverein Hedingen gibt im 2-Jahres-Rhythmus ein kleines Büchlein heraus. 2017 war es den Mitarbeitern des Werkhofs gewidmet. Das Buch porträtiert die vier Männer (in Hedingen gehört keine Frau zum Team) ausführlich. So erfährt man, dass sie sehr verschiedene berufliche Hintergründe haben und wann sie zum Team gestossen sind. Zudem werden die Maschinen, die zu pflegenden Liegenschaften und Anlagen sowie die externen Firmen vorgestellt. Obwohl ich als passionierte Fussgängerin die Werkhofmitarbeitenden ab und zu im Dorf sehe, überrascht mich die Bandbreite ihrer Aufgaben. Gerne spaziere ich den Hofibach entlang. Was sich unter dem unscheinbaren Schachtdeckel verbirgt, ist auch aus dem Buch zu erfahren. Ein liebevoll geschriebenes, interessantes Buch über Gemeindearbeitende und unsere Umwelt.

Maxence Fermine: die schwarze Violine

Ein schmales Buch erzählt in eindringlichen, kurzen Kapiteln die Geschichte eines Geigers aus dem 18. Jahrhundert. Als begabtes Wunderkind wurde Johannes Karelsky zuerst an Europas Höfen gefeiert. Nachdem er als Erwachsener in Vergessenheit geriet, liess er sich in Paris nieder. Er wollte sich ganz seiner Leidenschaft, eine Oper zu komponieren, widmen. Der Krieg spülte ihn aber nach Venedig, wo er bei einem alten Geigenbauer wohnte. An der Wand hing eine schwarze Geige und eines Abends erzählte der Geigenbauer die dazugehörige Geschichte.

In schlichten Worten erzählt Maxime Fermine diese spannende, lebendige Geschichte. Bereits nach wenigen Seiten steckt man mitten in der Handlung und möchte das Buch nicht mehr weglegen. Ein wunderbarer Roman über Träume und Leidenschaft.

November-Tipps von Irene Scheurer

Birgit Vanderbeke: Wer dann noch lachen kann

In ihrem neusten Roman springt Birgit Vanderbeke virtuos zwischen der Zeitebene der erwachsenen Erzählerin und ihrer Vergangenheit hin und her. Nach einem Autounfall leidet die Protagonistin unter chronischen Schmerzen. Erst Jahre später begibt sie sich in eine Therapie, die ihr augenblicklich hilft und Themen aus der Kindheit hochkommen lässt, die lange verschwiegen wurden. Sie merkt, dass der gewalttätige Vater und die tablettensüchtige Mutter, die auch die Tochter mit Medikamenten ruhigstellen will, tiefe Spuren hinterlassen haben und dass alles im Leben miteinander in Verbindung steht. Birgit Vanderbeke nähert sich mit diesem Buch ihrer eigenen Familiengeschichte, die sie mit dem ersten Teil „Ich freue mich, dass ich geboren bin“ begonnen hat und als dreibändigen Zyklus mit einem weiteren Teil im nächsten Jahr abschliessen wird.

Erling Kagge: Stille. Ein Wegweiser

Das neuste Buch des norwegischen Abenteurers, Verlegers und Autors Erling Kagge ist ein Plädoyer für ein kostbares Gut: die Stille. Er geht der Frage nach, was Stille überhaupt ist und weshalb sie so wichtig ist. Auf seinen Expeditionen zum Süd- und Nordpol oder auf den Mount Everest hat er sie gefunden und als bereichernde Kraft erlebt. In unserer modernen, geschäftigen Welt ist die Stille jedoch etwas Rares, Luxeriöses und Exklusives geworden.

Wir leben in Zeiten des Lärms, der uns weit weg von uns selbst bringt. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir auch im Alltag beruhigende Momente der Stille suchen, in denen es gelingt, die Welt ein wenig deutlicher zu sehen und das, was man tut, von innen zu betrachten. Erling Kagge bezeichnet die Stille als Schlüssel, mit dem sich neue Arten des Denkens erschliessen lassen; so ist sie eine praktische Ressource für ein reicheres Leben.

Jehuda Bacon und Manfred Lütz: "Solange wir leben, müssen wir uns entscheiden." Leben nach Auschwitz

Im Gespräch mit dem Psychiater Manfred Lütz erzählt der israelische Künstler Jehuda Bacon auf berührende Weise von seinen Erlebnissen im KZ, die er im Alter von 13 bis 16 Jahren gemacht hat. Tief beeindruckend am Schicksal von Jehuda Bacon ist, dass es ihm gelungen ist, trotz der entsetzlichen Erfahrungen, die er gemacht hat, an das Gute im Menschen glauben zu können. Er ist davon überzeugt, dass es in jedem Menschen einen unauslöschlichen Funken gebe. Im Gesprächsband erzählt er von Menschen und Situationen, die ihn wieder ins menschliche Leben zurückgeholt und es ihm ermöglicht haben, wieder Zuversicht zu schöpfen. Der Text ist ein faszinierendes Zeugnis, wie es einem Menschen, der das Schlimmste erlebt hat, was Menschen einander antun können, gelungen ist, nicht daran zu zerbrechen; er hat den Funken durch seine ganze Existenz zum Leuchten gebracht.

Cowspiracy: Das Geheimnis der Nachhaltigkeit

Die DVD, die bei mir in den letzten Monaten unbestritten am meisten Nachhall hatte, ist der Dokumentarfilm „Cowspiracy“. Er thematisiert die verheerenden Auswirkungen der industriellen Viehwirtschaft auf unseren Planeten. Gemäss eines offiziellen Berichts des Worldwatch Institutes geht hervor, dass weltweit mehr als die Hälfte aller in der Erdatmosphäre freigesetzten Treibhausgas-Emissionen durch Nutztiere verursacht werden und lediglich 13 Prozent auf den Transportsektor entfallen. Wie ist es möglich, dass der Klima-Killer Nummer 1 auch bei namhaften Umweltschutzorganisatoren nicht thematisiert wird?!

Ein Film, der einen zwingt, den eigenen Fleischkonsum zu überdenken.

September-Tipps von Rahel Buchter

Ulrike Edschmid: Ein Mann, der fällt

Wie unvermittelt und einschneidend sich das Leben doch verändern kann… Während der Renovationsarbeiten ihrer ersten gemeinsamen Wohnung fällt Ulrike Edschmids Lebensgefährte von einer Leiter und ist seither querschnittgelähmt. Die Geschichte beginnt im Jahr 1986 in Berlin-Charlottenburg. Sie wird in knappem, verdichtetem Stil erzählt, und geht einem beim Lesen wohl gerade darum so unter die Haut, weil sie ohne jegliche Sentimentalitäten auskommt. Wir fiebern mit dem Protagonisten mit, wenn er seine ersten schmerzhaften Schritte tut. Staunen, mit welcher Willenskraft er unter grösster Kraftanstrengung Treppen bewältigt, nach diversen Stürzen immer wieder aufsteht und weitergeht. Allmählich wächst er in seine Krankheit hinein, wie in eine zweite Haut. ‚Zuweilen erstaune es ihn, schreibt er, dass er bei der erzwungenen Verzögerung seiner Schritte auf eine innere, längst vorhandene Langsamkeit stosse, die er früher hinter einer zum Lebensstil gewordenen Eile habe verschwinden lassen.‘ Währenddessen geht das Weltgeschehen weiter, die Mauer fällt und in der grossen Stadt brodelt es. Ein lebendiges Buch. Und eine grosse Liebesgeschichte.

Graham Swift: Ein Festtag. Novelle

Die Geschichte der Jane Fairchild, Findelkind, Dienstmädchen und schliesslich Schriftstellerin. Eine Begebenheit wird besonders ausführlich erzählt. Sie spielt sich am Muttertag des Jahres 1924 in einem englischen Herrenhaus ab. Die Besitzer sind ausgeflogen und sämtliche Bedienstete wurden für einen Besuch bei ihren Müttern freigestellt. Jane trifft sich mit Paul, dem Sohn des Hauses nach langjährigen heimlichen Treffen zum ersten und letzten Mal in dessen Schlafzimmer, später wird er mit seiner standesgemässen Verlobten zu Mittag essen, welche er in zwei Wochen ehelichen soll… Der Autor versteht es meisterhaft, verschiedene zeitliche Ebenen kunstvoll und elegant miteinander zu verweben. So befinden wir Leser uns zeitweise bei der bald hundertjährigen, schalkhaften Autorin, dann wieder voller Spannung bei der jungen Jane, die nach Pauls Weggang nackt und lustvoll langsam durchs fremde Haus wandelt und dabei ihre Gedanken schweifen lässt, während das Drama unweigerlich seinen Lauf nimmt. Eine wunderbare Frauenfigur - mutig, sinnlich, Abenteuerromane liebend, feinfühlig, klug und ihrer inneren Stimme folgend. Besonders schön: die feinen Beobachtungen und Gedanken über Bedienstete und Herrschaften. Ich habe dieses Buch mit grosser Bewunderung für den Autor und dessen sorgsamen Umgang mit Sprache gelesen. Elegant, philosophisch, sinnlich. Es hat mich bezaubert.

Joseph Conrad: Die Schattenlinie. Ein Bekenntnis. Zwei kommentierte Erzählungen

Dieses Jahr neu aufgelegt in wunderschöner Ausstattung: zwei Seefahrer-Romane vom Feinsten! In der autobiografisch gefärbten Titelgeschichte übernimmt ein junger Kapitän in Bangkok sein erstes Kommando und sieht sich auf dem Schiff sogleich widrigen Umständen gegenüber: Die Hälfte der Mannschaft ist an einem Tropenfieber erkrankt und der Wind bleibt aus. Wie wird er diese Herausforderung meistern? Und wird er dabei die SCHATTENLINIE, den Grat zwischen Jugend und Erwachsensein überschreiten? Was für ein Genuss, sich lesenderweise auf hohe See zu begeben und in wilde Abenteuer zu stürzen!

Christopher Papakaliatis: Worlds Apart. Die Liebe in drei Generationen (DVD)

Drei einzelne Liebesgeschichten, mitten aus dem pochenden Leben von Athen. In der ersten Episode wird eine junge Frau überfallen und von einem syrischen Flüchtling gerettet. Unvergesslich romantisch die Liebesszene in einem Flugzeug des stillgelegten Flughafens, wo sich Flüchtlinge versteckt halten und auf ihre Weiterreise warten. Leider ebenso unvergesslich: Der Hass einiger griechischer Landsleute auf die unerwünschten Einwanderer. In der zweiten Episode geht es nebst leidenschaftlicher Liebe um wirtschaftliche Umstrukturierung und um Angst vor Verlust der Arbeitsstelle. Und im dritten Teil schliesslich finden zwei ältere Menschen, eine Griechin und ein Deutscher, zusammen. Einerseits ist dies ein Film über die wirtschaftlichen und politischen Probleme, mit denen Griechenland zur Zeit zu kämpfen hat, andererseits eine Hymne an die Kraft der Liebe. Erst zum Schluss erfährt man die verblüffende Verbindung der drei Geschichten. Ein berührender Film. In Griechenland ein Grosserfolg.

Juli-Tipps von Colette Fehlmann

Wolf Biermann: Warte nicht auf bessre Zeiten! Die Autobiographie

Die Autobiographie des Dichters und Liedermachers Wolf Biermann ist ein Ereignis, wie es auch seine Buchvorstellung in Zürich dieses Jahr war! In seiner Familiengeschichte reflektieren sich die politischen Kämpfe, Totalitarismen, Utopien, die Lebenslust und der Widerstand im 20. Jahrhundert und die Kraft von ‘Bleistift und Gitarre’ bis heute: 1936 in Hamburg geboren; sein Vater, Kommunist und Jude, wird 1943 in Ausschwitz ermordet; 1953 Umzug in die DDR; seit 1965 Auftrittsverbot; 1976 ausgebürgert; am 1. Dez. 1989 erstes Konzert in Leipzig vor 5000 Menschen, vier Tage später wird sein zweitjüngstes Kind geboren.
Wolf Biermann erzählt uns dieses Leben, diese Geschichtslektion, im Stil seiner Balladen: zärtlich-rauh, sarkastisch-witzig, analytisch-poetisch.
Dass er auch Angst hatte, aber die Angst nicht ihn, und dass er oft weiter ging und mutiger was als andere, ist das Erbe seines Vaters, «der so lebendig tot war», seiner beiden Eltern, die im Widerstand waren - das «schwarze Glück» seiner Biographie.

I Am Not Your Negro (Regie: Raoul Peck)

Eben ist die DVD zum preisgekrönten Doku-Film von Regisseur Raoul Peck erschienen. Der Film basiert auf einem unvollendeten Manuskript von James Baldwin (1924–1987), des wohl wichtigsten afro-amerikanischen Autors des 20. Jahrhunderts. Er setzt sich darin mit dem Leben seiner drei durch Attentate getöteten Freunde Medgar Evers, Malcolm X und Martin Luther King auseinander und mit seiner eigenen Lebenserfahrung als schwarzer Amerikaner. Barack Obama hat Baldwin als einen seiner geistigen Väter bezeichnet. Raoul Peck schreibt die Geschichte fort bis in unsere Gegenwart. Ein grossartiger, ein unverzichtbarer Film.

Wie ein Schaf in der Wüste. Als James Baldwin die Schweiz besuchte (Hörbuch)

Parallel zum Film entdecke ich in unserer Bibliothek das Hörbuch über James Baldwins Besuch des Walliser Bergdorfes Leukerbad Anfang der 50-er Jahre! Wo dieser Tage das 22. Internationale Literaturfestival Leukerbad Autorinnen und Autoren aus aller Welt erwartet, begegnete die Bevölkerung von damals zum ersten Mal überhaupt einem dunkelhäutigen Menschen. Baldwin, der Dank seiner Freundlichkeit und Zugänglichkeit schnell die Sympathien der Bergler gewinnt, studiert wie ein Ethnologe die Reaktionen der Leute und wird darüber seinen Essay «Der Fremde im Dorf» schreiben. Neben diesem Text und Baldwins Stimme im O-Ton kommen im Hörspiel Zeitzeugen und ehemalige Freunde Baldwins zu Wort – es entsteht eine spannende Sprach- und Musik-Collage auf Englisch, Französisch und schönstem Walliserdeutsch.

Alberto Nessi: Miló. Erzählung

Mit Alberto Nessi, der uns kürzlich in der Bibliothek Rifferswil einen äusserst charmanten, engagierten und poetischen Abend bescherte, haben wir einen Schweizer Autor, der uns Geschichten zu erzählen weiss, die uns in der Deutschschweiz weniger vertraut sind: Geschichten aus dem Grenzraum Italien-Schweiz. In der Titelerzählung erleben wir mit Miló und seiner Mutter Joséphine die Arbeiterkämpfe in Genf und Lausanne der 30er Jahre und, als sich Miló nach seiner Ausweisung aus der Schweiz den Partisanen in den Bergen des Aostatals anschliesst, deren verzweifelten Widerstand gegen das faschistische Mussolini-Regime. Weitere Protagonisten in den Erzählungen aus dem Tessin sind die Bergler mit ihrer Schwermut, die Schmuggler rund ums Muggio-Tal, die Frauen, welche härtesten Lebens­um­ständen und Schicksalsschlägen ausgesetzt sind, die irgendwie vom Leben Versehrten – die Lebenden und die Toten. Und immer wieder fliessen Beobachtungen ein zu heutigen Flüchtlingsszenen rund um Chiasso und Mendrisio, der Heimat des Autors.

Nessi sieht all die vermeintlich unscheinbaren Menschen und gibt ihnen eine Stimme. Es sind harte, verstörende Geschichten, die er uns zumutet, aber sie sind durchdrungen vom Humor und von der Menschenfreundlichkeit, die auch bei seiner Lesung aus den Augen des Autors blitzen.
‘Miló’ ist in der Bibliothek auf Deutsch und in der italienischen Originalausgabe vorhanden.

Mai-Tipps von Gabi Scherer

Francesca Sanna: Die Flucht

In ihrem Bilderbuch „Die Flucht“ beschreibt die Illustratorin Francesca Sanna die Odyssee einer Flüchtlingsfamilie: Eine zerbombte Stadt, eine entwurzelte Familie, eine Flucht ins Unbekannte: nicht unbedingt ein Thema, das sich für ein Bilderbuch eignet. Im Buch erzählt die Autorin die Geschichte einer Familie, die vor dem Krieg in ihrem Land flüchten muss.

Die Geschichte wird aus der Sicht von Kindern erzählt. Sie beschreiben eine Reise, die wie ein

Abenteuer erscheint, eine Reise in ein Land, wo sie keine Angst mehr haben müssen, wo sie in

Sicherheit sein werden. Die Reise selber ist aber gefährlich. Die mehrtägige Fahrt auf dem Boot übers Meer zusammen mit vielen anderen Flüchtlingen ist kaum auszuhalten. Auf der Überfahrt erzählen sie einander Geschichten von Ungeheuern, um sich vor der eigenen Angst abzulenken.

Das Buch ist zugleich Sannas Masterarbeit in Design mit Spezialisierung auf Illustration an der Hochschule Luzern.

Francesca Sanna stammt aus Sardinien und lebt in Zürich. Sie selbst ist Migrantin und kennt im kleineren Rahmen die kulturellen, sprachlichen und administrativen Probleme in einem fremden Land. Für ihr Bilderbuchdebüt wurde sie mit der renommierten Goldmedaille der Society of Illustrators in New York ausgezeichnet.

Claude K. Dubois: Akim rennt

Claude K. Dubois, eine preisgekrönte Autorin und Illustratorin aus Belgien, zeigt auf, welche Auswirkungen der Krieg auf Kinder und Erwachsene haben kann.

Die Erzählung lebt von Bleistift- und Kohlezeichnungen, die inhaltlich weit über das Gesagte hinausgehen. Die Bilder wirken wie schemenhafte, unvollständige Skizzen. Vielleicht ist es für den Betrachter so einfacher, die schreckliche Situation von Akim im Bilderbuch anzuschauen:

Akim erlebt Bombeneinschläge, Qualm, Chaos. Er gerät in Gefangenschaft von Soldaten. Es gelingt ihm die Flucht, er rennt stundenlang, bis er es in die Sicherheit eines Flüchtlingslagers

schafft.

Die Geschichte macht deutlich, weshalb Menschen alles zurücklassen und fliehen, damit sie an einem sicheren Ort in Freiheit leben können.

Für das Buch erhielt die Autorin 2014 den Deutschen Kinder- und Jugendbuchpreis.

Giancarlo Macri und Carolina Zanotti (illustriert von Clara Zanotti): Punkte

Giancarlo Macri und Carolina Zanotti versuchen in ihrem Bilderbuch zu erklären, was Flucht bedeutet, wie man mit der Situation umgehen könnte. Die beiden Autoren haben es „auf den Punkt gebracht“. Anhand von Punkten zeigen sie, wie wir leben und wie die Menschen in den Fluchtländern leben.

Ein Punkt, viele Punkte, Familie, Freunde, weitere Punkte, andere Punkte…. Den einen geht es gut, den anderen nicht. Zusammen kann man etwas verändern.

Mit dem einfachen Element Punkt erklären die Autoren und die Illustratorin das Thema Flucht für kleine Kinder. Ein gepunktetes Bilderbuch, welches das Thema Flucht leicht verständlich auf den Punkt bringt.

März-Tipps von Ulla Schiesser

Hans-Günter Weess: Die schlaflose Gesellschaft. Wege zu erholsamem Schlaf und mehr Leistungsvermögen

Mein Interesse an diesem Buch ist sowohl beruflicher, als auch persönlicher Natur. Beruflich, weil wir den Autor am Donnerstag, 1. Juni 2017, zu uns in die Bibliothek eingeladen haben. Der Psychologe und Leiter des Schlafzentrums am Pfalzklinikum Klingenmünster wird mit seinem Vortrag „Was uns den Schlaf raubt – und was Sie dagegen tun können!“ Licht ins Dunkel unserer schlaflosen Nächte bringen. Die persönlichen Gründe liegen auf der Hand; habe ich früher oft schon geschlafen bevor ich alle Knochen sortiert hatte, nutze ich heute die Nächte oft zum Lesen und ich weiss, dass ich damit nicht alleine bin.

Dieses Buch beantwortet unzählige Fragen zum Thema Schlaf. Der Autor beleuchtet das grosse Spektrum der unterschiedlichen Schlafstörungen, gibt Anleitung zur Selbsthilfe und Einblick in die Erkenntnisse der aktuellen Schlafforschung.

Zudem verweist Hans-Günter Weess auch auf die gesellschaftlichen Hintergründe, die zu unserer unausgeschlafenen Gesellschaft geführt haben und die weitreichenden, damit verbundenen Risiken und Kosten.

Ein sehr umfassendes, erhellendes Buch zu einem aktuellen Thema.

Max Porter: Trauer ist das Ding mit Federn

Eine junge Frau stirbt. Zurück bleiben zwei kleine Söhne, ihr Mann und  „Trauerstaub“ auf allem. Da taucht eines Nachts Krähe auf, ein riesiger, stinkender, schwarzer Vogel, der den verstörten Mann in seinem Flügel birgt und verspricht zu bleiben, bis er nicht mehr gebraucht wird. Krähe ist eine Zumutung. Er konfrontiert seine Nestlinge mit Erinnerungen und Geschichten, flucht, reisst schräge Witze, ist anarchistisch und vulgär und berichtet in seiner ganz eigenen, expressiven Sprache aus dem Alltag im Epizentrum der Trauer.

Dazwischen berichtet „Dad“ von seinen Gehversuchen und der grosszügigen, bedingungslosen Liebe, die ihm seine kleinen Söhne entgegenbringen. Von den Jungs wiederum erfährt man, wie die Lebenslust sich ihren Weg bahnt und durch die dicken, kalten Mauern der Verstörung sickert. Es ist ein leuchtender, wilder, aber trotzdem strukturierter Text, etwas zwischen Klagelied, Gedicht und Abrechnung. Wer sich darauf einlässt, wird belohnt mit starken Bildern und berauschender Sprache.

True Detective, Staffel 1 / Regie: Nic Pizzolatto

Vorsicht, Suchtpotential! Wer wenig freie Zeit hat, sollte lieber die Finger von dieser spannenden Serie lassen, denn vor allem die erste Staffel zeichnet sich aus durch hervorragende Hauptdarsteller, kunstvolle Bilder und Dialoge, die man mitschreiben möchte. Intelligente Spannung für Melancholiker und Leute, die es mögen, wenn Geschichten erzählt und Figuren langsam entwickelt werden. Allerbeste Begleitung durch schlaflose Nächte (siehe 1. Titel).

Januar-Tipps von Karin Wieler

Antoine Laurin: Liebe mit zwei Unbekannten (Grossdruck)

Mit französischem Charme lässt der Autor die Lesenden in eine liebenswerte Geschichte um zwei Menschen eintauchen, die sich (noch) nicht kennen. Laurent findet eines Tages eine Damenhandtasche. Nach langem Überlegen – es schickt sich ja nicht, dass ein Mann das tut! – öffnet er die Handtasche und findet darin unter typisch weiblichen Gegenständen ein Notizbuch. Er liest darin, beginnt sich ein Bild von der Frau zu machen – und verliebt sich in sie. Höchst vergnüglich nun die Suche nach Laure – geniessen Sie sie und lesen Sie weitere zwei Bände von Antoine Laurain!

Sue Hubbel: Leben auf dem Land

Dies ist ein wunderbar leicht geschriebenes Buch, das viel Lehrreiches zu Tier- und Pflanzenwelt bietet. Sue Hubbell ist aber weit davon entfernt, belehren zu wollen. Sie schreibt in einfachen, klaren Sätzen, was sie denkt. Sei es die Betrachtung von Vögeln – in aller Ruhe und mit viel Geduld schafft sie das auch ohne Fernglas - seien es Gedanken über so unansehnliche Tiere wie z.B. Schaben und natürlich immer wieder die Beschreibungen ihrer Arbeit als Bienenzüchterin und Honigproduzentin. Berührend auch, wie sie ihre Gefühle als verlassene Ehefrau andeutet oder ihr neues Leben auf eigenen Füssen mit Arbeiten schildert, die eigentlich Männer verrichten müssten. Immer präsent sind ihre grosse Liebe zur Natur und ihr Respekt vor der Existenz jeglichen Lebens.

Burak Özdemir: Sampling_Baroque / Handel

Lust auf ein Experiment? Die Frage ist, was Georg Friedrich Händel wohl zu dieser Interpretation seiner Musik sagen würde. Ich freue mich immer wieder, wenn junge Musikerinnen und Musiker es wagen, klassische Musik neu zu spielen, zu verfremden, zu verändern. Da entsteht Ungewohntes, Gewöhnungsbedürftiges, aber ein Abweichen von der traditionellen Aufführungspraxis eröffnet uns auch neue Sichten! Das Ensemble Musica Sequenza, sieben junge Leute, spielen auf Barockinstrumenten, was mit der elektronischen Komponente einen reizvollen Zusammenklang ergibt. Burak Özdemir ist auch Komponist –  seine drei Stücke bergen ebenfalls Spannendes!

Paolo Fresu / Daniele di Bonaventura: In maggiore

Fast meditativ, ruhig, eindringlich, in verschiedensten Klangvariationen klingt die Musik, die die beiden Musiker Paolo Fresu (Trompete und Flügelhorn) und Daniele di Bonaventura (Bandoneon) uns präsentieren. Sowohl die klassische Musik als auch der Jazz sind Heimat für die beiden Musiker und dies macht diese CD so speziell. 

November-Tipps von Irene Scheurer

Sascha Batthyany: Und was hat das mit mir zu tun? Ein Verbrechen im März 1945. Die Geschichte meiner Familie

Der Schweizer Soziologe und Journalist Sacha Batthyanys stösst auf Unterlagen, die belegen, dass seine Grosstante in eines der schrecklichsten Nazi-Verbrechen am Ende des Zweiten Weltkriegs verwickelt ist. Er beginnt zu forschen und realisiert bei der Lektüre der Tagebücher seiner Grossmutter, dass auch sie Zeugin eines Massakers geworden ist – und ebenfalls geschwiegen und nichts unternommen hat. Immer intensiver beschäftigt ihn die Frage, was die ganze Familiengeschichte mit ihm zu tun hat. Was hätte er gemacht? Wäre auch er ein „Maulwurf“ gewesen, der sich geduckt und weggeschaut hätte? Prägen die Traumata der früheren Generationen unser Leben? Sascha Batthyany wirft viele Fragen auf, die er auch nach intensiven Nachforschungen und Reisen nach Ungarn, Sibirien und Buenos Aires sowie zahlreichen Sitzungen beim Psychoanalytiker nicht restlos klären kann.

Dörte Hansen: Altes Land

„Dit Huus is mien un doch nich mien, de no mi kummt, nennt’t ook noch sien.“  (Dieses Haus ist nicht meines und auch nicht deines, denn derjenige, der nach mir kommt, nennt es auch seines.) Dieser plattdeutsche Satz steht als Inschrift am Giebel eines verwitterten Hauses in der Elbmarsch südlich von Hamburg, in dem Hildegard und ihre kleine Tochter Vera als Flüchtlinge aus Ostpreussen im Frühling 1945 Aufnahme finden. Sie werden von der Hausherrin als „Polacken“ beschimpft und nur ungern geduldet. Obschon Hildegard später deren Sohn heiratet, wird sie nie heimisch im Haus und der neuen Umgebung. Hildegard verlässt schliesslich Mann und Tochter und zieht nach Hamburg. Da keine weiteren Verwandten da sind, erbt Vera nach dem Tod des Stiefvaters das Haus. Sie wohnt sechs Jahrzehnte darin und fühlt sich dennoch wie „eine Flechte“: Sie existiert, kann aber keine Wurzeln schlagen. Als ihre Nichte Anna mit ihrem kleinen Sohn unerwartet bei ihr einzieht und das alte Haus zu renovieren beginnt, weicht endlich das Gefühl der Heimatlosigkeit.

Evi Hartmann: Wie viele Sklaven halten Sie? Über Globalisierung und Moral

Rund eineinhalb Milliarden privilegierter Menschen im Westen konsumieren rund 80 Prozent aller Güter dieser Welt. 80 Prozent der Menschheit kriegen nur den kümmerlichen Rest auf den Teller. Unsere Wirtschaft macht uns zu Sklavenhaltern, das führt uns jedes 3-Euro-T-Shirt vor Augen.

Wenn wir Kleidung tragen, Nahrung zu uns nehmen, ein Auto fahren und ein Smartphone haben, arbeiten derzeit ungefähr 60 Sklaven für uns, meint Evi Hartmann, Professorin für Betriebswirtschaftslehre. Wir können die Globalisierung nicht abschaffen, aber die Autorin zeigt in ihrem Buch auf, wie Fairplay möglich ist.

September-Tipps von Rahel Buchter

Ramita Navai: Stadt der Lügen. Liebe, Sex und Tod in Teheran

Soeben habe ich nach intensiver Lektüre staunend die Buchdeckel geschlossen: Welch ein Buch!

Des etwas provokanten Titels wegen könnte man meinen, es handle sich um eine brisante Aufdeckungsgeschichte. Dem ist aber nicht so. Ramita Navai liebt diese Stadt, das spürt man.

Die Autorin wurde in Teheran geboren und ist als Achtjährige mit ihren Eltern vor der islamischen Revolution geflüchtet. Als Times-Korrespondentin ist sie von 2003-2006 in den Iran zurückgekehrt und hat in dieser Zeit diverse Gespräche mit Stadtbewohnern geführt, deren Geschichten sie hier einfühlsam und äusserst differenziert nach- oder umerzählt. In acht einzelnen, in sich abgeschlossenen Episoden erhalten wir Einblick in die vielfältigen Lebensweisen dieser Menschen. Bei der Lektüre wird klar: Die Gesellschaftsstruktur Teherans ist äusserst komplex und die Bevölkerung dieser pulsierenden Stadt nicht kategorisierbar.

Ob ‘Jahel‘ (Gangster aus der Arbeiterschicht mit striktem Ehrenkodex, die sogar einen eigenen Tanzstil pflegen), geschiedene Frau, Mullah, Revuetänzerin, Blogger oder Hermaphrodit, sie alle täuschen, um zu überleben, lügen, um sich selbst letztendlich treu bleiben zu können.

Übrigens: Haben Sie gewusst, dass es in kaum einer anderen Stadt so viele Nasenkorrekturen gibt wie in Teheran?

Zora del Buono: Gotthard. Novelle

Es empfiehlt sich, diesen schmalen Band gleich zweimal zu lesen. Die Geschichte ist so dicht erzählt, dass einem beim ersten Durchgang leicht einige vergnüglichen Details entgehen könnten.

Die Autorin führt uns in den Mikrokosmos einer Bauarbeitergemeinschaft des Gotthardbasistunnels im Tessin.

In flirrender, trockener Hitze und dem dunklen Sog des Berges ausgesetzt, lässt sie die verschiedensten Personen aufeinanderprallen: Fritz Bergundthal, einen gepflegten Junggesellen, Mittfünfziger und Eisenbahnfan. Die Lastwagenfahrerin Flavia. Deren übertrieben geschminkt und herausgeputzte Mutter Dora. Aldo und Tonino, die zusammen ein dunkles Geheimnis teilen. Robert Filz, ein von obsessiver Lust auf Frauen besessener Lokführer. Monica, die nicht mehr ganz junge brasilianische Prostituierte. Thomas Oberholzer, ein Bücher liebender Mineur. Und natürlich mit dabei: die heilige Barbara.

Stilsicher, pointiert und mit viel Sinn für atmosphärische Details erzählt Zora del Buono eine klassisch aufgebaute Novelle, deren Fäden sich innerhalb des einen Tages, in der die Geschichte spielt, immer mehr zusammenziehen, bis es schliesslich zu einem fulminanten Ende kommt.

Gut zu wissen, dass demnächst ein neues Buch dieser Autorin erscheinen wird.

Ciro Guerra: El Abrazo de la Serpiente (DVD)

Ein auf Tagebuchaufzeichnungen eines deutschen Ethnologen und eines amerikanischen Botanikers basierender Spielfilm.

Die beiden Forscher haben sich zu unterschiedlichen Zeiten (1906/1940) ins Herz des Amazonas vorgewagt, um nach einer geheimnisvollen Pflanze zu suchen und werden dabei vom selben Schamanen begleitet.

Ein beeindruckender Film! Alles in Schwarz-Weiss gedreht. Betörend schöne Bilder.

Hat man geträumt? Nach dieser zweistündigen, langsamen Kamerafahrt in die Unendlichkeit des Amazonasbeckens braucht man etwas Zeit, um in die Realität zurückzufinden…

Verstörende Szenen bei den Kautschuksklaven und in einer christlichen Missionsstation lassen uns einmal mehr über die Zwiespältigkeit des Kolonialismus nachdenken.

Für mich der bisher stärkste Film in diesem Jahr. War übrigens für einen Oscar nominiert.

John Crowley: Brooklyn (DVD)

Und zum Schluss: Balsam für Herz und Augen!

Irland 1952: Da für die junge Eilish (Saoirse Ronan) im eigenen Land nur sehr beschränkte Zukunftsperspektiven vorhanden sind, nimmt sie die durch einen Priester vermittelte Gelegenheit wahr, um nach New York auszureisen. Dort wohnt sie in einer Unterkunft für junge Frauen und arbeitet in einem Warenhaus. Anfänglich bedrückt und unter grossem Heimweh leidend, findet sie allmählich zu neuer Lebenslust und zu Tony, einem italienischstämmigen jungen Mann.

Der plötzliche Tod ihrer Schwester bedingt Beistand für ihre Mutter und sie tritt eine Reise in ihre alte Heimat an…

Sentimentalität kann glücklich machen. Dieser Film hat etwas Leuchtendes, Erhellendes.

Dank der wunderbaren Besetzung und Ausstattung und nicht zuletzt der wohlklingenden irischen Sprache wegen (einmal mehr: unbedingt in Originalsprache schauen!), wirkt der Film authentisch und keineswegs kitschig, obwohl er genau dies sein könnte.

Eine gelungene Adaption der gleichnamigen Roman-Vorlage von Colm Toibin, die etwas verhaltener daherkommt und ebenfalls sehr empfehlenswert ist.

Juli-Tipps von Colette Fehlmann

Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus

Die Literaturnobelpreis-Trägerin 2015 mag wieder aus den Schlagzeilen verschwunden sein. Umso mehr will ich an ihre einmaligen Gesprächsprotokolle erinnern, in diesem Fall aus dem Innern von 70 Jahren Leben in der Sowjetunion und vom Leben nach deren Zerfall. Eins zu eins nehmen wir teil am «sozialistischen Drama», indem Alexijewitsch versucht, «alle Beteiligten, mit denen ich mich treffe, fair anzuhören...». Wir bekommen eine Ahnung von der hohen Identifikation mit den Idealen des Sozialismus - und dem Ausmass an Opferbereitschaft für dessen Aufbau. Umso erschütternder die Berichte über das Grauen des Krieges und die Gräuel der stalinistischen Lagerhaften. Und wir erleben nochmals die hochdramatische Zeit von Gorbatschows Versuch der Perestroika bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion. Bisher war die legendäre «russische Küche» das Zentrum der Diskussions- und Dissidentenkultur. Plötzlich aber tauchten ganz andere Leute auf, «mit neuen Spielregeln: Wenn du Geld hast, bist du ein Mensch, hast du keins, bist du ein Niemand». Die Menschen erleben die totale Entwertung ihrer bisherigen Biografien. Wir bekommen aber auch von den schönsten Liebesgeschichten zu hören: Wie wichtig es ist, geliebt zu werden!
In knappen Klammerbemerkungen ist die Autorin präsent als Gesprächspartnerin, die es sehr vielen Menschen zum ersten Mal überhaupt ermöglicht, ihre Geschichte zu erzählen. Wer Russland verstehen will, lese dieses Buch!

Ta-Nehisi Coates: Zwischen mir und der Welt

Mit seinem Essay «Plädoyer für Reparationen» hat der Journalist und Buchautor Ta-Nehisi Coates in den USA bereits eine Diskussion über die Aufarbeitung der Sklaverei ausgelöst. Dieser Essay findet sich im zweiten Teil des Buches. Auch «Zwischen mir und der Welt» ist eine Analyse des fortdauernden Rassismus in der amerikanischen Gesellschaft. Coates schreibt sie in Form eines Briefes an seinen Sohn in dessen 15. Lebensjahr, als dieser erlebt, wie Schwarze, auch Jugendliche, von Polizisten erschossen werden, und weint, nachdem er hört, dass gegen die Täter keine Anklage erhoben wird. Coates erzählt ihm und uns über seine eigene Lebensgeschichte, was es heisst, in diesem seinem Land in einem schwarzen Körper zu leben. Die Angst, die sich durch 250 Jahre der Sklaverei in die Körper eingeschrieben hat, ist immer da. Sie war schon da in seiner Jugend in Baltimore gegenüber den brutalen Ritualen der Strasse und der Erfahrung, dass das Gesetz nicht zu seinem Schutz da war; und auch «jetzt, in deiner Zeit, ist das Gesetz zu einem Vorwand verkommen, dich anzuhalten und zu filzen, den Angriff auf deinen Körper fortzusetzen», schreibt er an seinen Sohn. Sprachkraft und Sprachrhythmus dieses Plädoyers gegen Rassismus gehen unter die Haut.

Daniel Fueter (Klavier und Rezitation), Leila Pfister (Mezzosopran), Samuel Zünd (Bariton): Züri-Lieder

Schon 2009 aufgenommen, aber neu in unserer Bibliothek ist die CD mit Züri-Liedern wie «Mis Dach isch de Himmel vo Züri», «O mein Papa», «Oerlikon» oder «Mis Chind» - mit Musik des unvergesslichen Paul Burkhard u.a.
Alle drei MusikerInnen sind im Chanson, im klassischen Gesang und in der Theaterwelt gleichermassen zu Hause. Wunderbar, wie sie den Balanceakt schaffen, diese Ohrwürmer mit grosser musikalischer Sorgfalt neu zu interpretieren. Sentimental, ja, aber auch verschmitzt! Mit welch zärtlichen Girlanden der ehemalige Rektor der Musikhochschule und Dozent für Liedgestaltung Daniel Fueter in «Lili’s Lied» die klare Stimme von Leila Pfister umspielt! Von ihm stammen Lied-Kompositionen zu Texten von Martin Suter.
Und wer will, wird im einen oder andern Lied von Ferne die Stimmen von Margrit Rainer, Ruedi Walter und Zarli Cariget mithören.

Mai-Tipps von Gabi Scherer

Owen Sheers: I saw a man

Nach dem tragischen Tod seiner Frau Caroline, die als Journalistin bei einem Aufenthalt in Afghanistan stirbt, erträgt Michael es nicht mehr länger am bisherigen Wohnort in Wales.

Michael zieht nach London, wo er als Schriftsteller arbeitet.

An seinem neuen Wohnort freundet er sich mit seinen Nachbarn, den Nelsons, an. Josh, Samantha und ihre zwei Töchter wohnen im Haus nebenan und es entwickelt sich schnell

ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Michael und der Familie Nelson.

Michael geht bei den Nelsons wie selbstverständlich ein und aus. An einem Samstag Nachmittag findet er die Hintertür ihres Hauses offen vor, aber das Haus scheint leer zu sein.

Michael hat das Gefühl, dass etwas nicht stimmt und er betritt das Haus. Er wird Zeuge eines Unfalls der kleinen Tochter der Nelsons, die alleine zu Hause ist. Michael verlässt das Haus, er stiehlt sich aus der Verantwortung.

Dieses Buch ist sehr packend und spannend geschrieben. Es zeigt, wie eine unscheinbare Handlung das Leben aller Beteiligten für immer verändern kann.

 

Der Roman ist in der Bibliothek auch als Hörbuch (gelesen von Devid Striesow) vorhanden.

Isabel Bogdan: Der Pfau

Isabel Bogdan ist preisgekrönte Übersetzerin englischer Literatur. Das Genre der britischen Romane hat es ihr angetan und sie hat selber einen humorvollen Roman verfasst:

Ein Team aus einer Bank will seine Zusammenarbeit bei einem Workshop verbessern. Die Chefin Liz wählt für das Wochenende ein Schloss im ländlichen Schottland aus. Lord und Lady McIntosh vermieten den Investmentbankern den Westflügel ihres herrschaftlichen Hauses.

Das Wochenende verläuft ziemlich chaotisch: Ein Pfau spielt verrückt, es kommt zu einem überraschenden Wintereinbruch, daher können die Banker nicht abreisen. Im Haus gibt es kaum heisses Wasser und die Chefin Liz muss mit einer Grippe das Bett hüten.

Es geschehen urkomische Dinge und es entstehen viele Missverständnisse.

 

Auch als Hörbuch (gelesen von Christoph Maria Herbst) vorhanden.

Jane Gardam: Eine treue Frau

Dieser Roman ist der zweite Teil einer Trilogie. (Titel des ersten Teils: Ein untadeliger Mann)

Die Trilogie ist in England in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts erschienen.

Betty, so heisst die Hauptperson im Roman, reist nach Hongkong. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg taucht sie wieder ein in die geliebte, glanzvolle Welt des fernen Ostens, wo sie aufgewachsen ist. Diese Liebe zum fernen Osten verbindet sie tief mit ihrem Ehemann Edward Feathers, dem jungen Star unter den Richtern in Hongkong.

Als Betty Edward ewige Treue verspricht, weiss sie intuitiv, dass ihre Ehe kaum auf wilder Leidenschaft gründen wird. Kann sie diesen untadeligen, schönen Mann lieben oder liebt sie seinen schlimmsten Feind, den smarten Veneering?

Betty ist für ihren Mann nicht die grosse Liebe, sondern der grosse Halt. Ohne Betty würde er zusammenbrechen. Und umgekehrt ist es ähnlich. Beide sind sie Waisen, im fernen Osten geboren und beide sind heimatlos.

 

Auch als Hörbuch (gelesen von Eva Mattes) vorhanden.

März-Tipps von Barbara Schläfli

Isabel Allende: Der japanische Liebhaber

Lark House, Kalifornien. Hier trifft die 23-jährige Aushilfskraft Irina Bazili aus Moldawien die Protagonistin des Romans, Alma Belasco, 82 Jahre alt.

Vor drei Jahren hat die Lady von einem Tag auf den anderen ihre noble Villa nahe der Golden Gate Bridge verkauft und ein nüchternes Appartement in Lark House bezogen. Hier gibt sich die alte Dame aristokratisch und hält Distanz zu den übrigen Heimbewohnern. Sie und ihre alte Katze Neko sind einander genug. Ihr Lebenswandel gibt Anlass zu allerhand Gerede und Vermutungen. Ab und zu verschwindet sie gleich für ein paar Tage, ohne irgendwelche Angaben dazu zu hinterlassen. Am seltsamsten freilich: Einmal in der Woche erhält sie einen gelben Umschlag und ein Kistchen mit drei Gardenien – beides ohne Absender.

Auch um sich von den eigenen Lebenssorgen abzulenken, folgt Irina den Spuren, und es beginnt eine abenteuerliche Reise bis weit in die Vergangenheit von Alma Belasco. Nach und nach erfahren wir Almas Lebens-, Liebes- und Leidensgeschichte.

Isabel Allende erzählt von Freundschaft und der unentrinnbaren Kraft einer lebenslangen Liebe. Davon, wie Zeit und Zwänge über eine solche Liebe hinweggehen und sie verwandeln, in Verbundenheit, Wehmut und ein leises Staunen darüber, schon so lange gemeinsam unterwegs zu sein.

„Es liegt an uns, ob die Liebe ewig währt!“

Jacques à Bâle: 20 Regeln für Sylvie (DVD)

Die kleine Sylvie (Viola von Scarpatetti) hat einen treusorgenden Papa. Adalbert, ein Mann mit Rauschebart und Prinzipien (Carlos Leal). Sie wohnen in den Alpes Vaudoises, ins Dorf hinab fährt die Seilbahn. Die Mama ist vor Jahren gestorben. Zum Trost füttert Papa seine Sylvie vor dem Zubettgehen mit Pom-Bärli und wenn das nur ginge, würde er sie am liebsten in der rosaroten Kuscheltierphase einbalsamieren. Das ist aber nicht möglich, denn die kleine Sylvie zählt nämlich schon stolze 20 Jahre. Demnächst fängt für sie das Leben an, mit dem ersten Semester an der Uni Basel.

Vor diesem Tag graut es Adalbert. In seiner Not listet er „20 Regeln für Sylvie“ auf. Kein Sex, weder Partys noch Konzerte. Nicht mit Jungs knutschen. Nicht mal Lippenstift. „Das ist die Einstiegsdroge“, glaubt Adalbert. Um sicher zu gehen, dass Sylvie keine der Regeln bricht, folgt er ihr insgeheim in die Grossstadt, wo er sich bald mit ein paar Studenten anfreundet und eine Regel nach der anderen selber bricht.

Ein erfrischender, witziger und unterhaltsamer Schweizer Film!

Clemens Ettenauer / Johanna Bergmayr (Hg.): Cartoons über Hunde

Cartoonisten sind wie Hunde – verspielt, ihrer Leserschaft treu ergeben und manchmal auch ein bisschen ungezogen. Das erklärt, wie sie es schaffen, so derart tiefe Einblicke in das Wesen des Hundes (und seines Herrchens), geben zu können.

In diesem Buch erfahren Sie alles über Hunde: vom Dilemma eines Poststreiks, über die Probleme des Raucherdackels bis zu autofahrenden Hunden mit Rot-Grün-Blindheit.

Zum Schmunzeln und Lachen, aber auch gewürzt mit einer Prise schwarzem Humor!

 

Tipp: Die Cartoon-Abteilung ist erweitert und erneuert worden. Auch ohne ausgeprägte Schnüffelnase findet man dort allerlei Witziges und Unterhaltsames.

Januar-Tipps von Karin Wieler

Yuja Wang: Ravel

Mit dem Tonhalle-Orchester Zürich unter der Leitung von Lionel Bringuier spielt die 1987 in Peking geborene Pianistin Yuja Wang zwei Konzerte von Maurice Ravel und eine Ballade von Gabriel Fauré. Sowohl das Konzert in G-Dur, das mit einem Peitschenknall beginnt, als auch die Ballade sind ein Genuss, aber das Konzert für die linke Hand in D-Dur verblüfft uns Zuhörende: Man würde nicht glauben, dass Yuja Wang nur mit der linken Hand spielt, wenn es nicht so angegeben wäre. Ravel komponierte es im Auftrag des kriegsversehrten Pianisten Paul Wittgenstein, der es 1932 zur Uraufführung brachte. Diese grandiose Technik, die grosse Musikalität, die Interpretation der vom bereits in Europa aufblühenden Jazz inspirierten Musik Ravels sind beeindruckend. Lionel Bringuier, 1986 geboren, ist ein vielversprechender Chefdirigent und mit Yuja Wang ist mit dieser CD ein wunderbares Werk entstanden.

Anna Enquist: Streichquartett

Musik kann über vieles hinwegtrösten, kann ablenken, Energie spenden, Verbundenheit der gemeinsam Musizierenden schaffen. Anna Enquist gibt jedem Mitglied des Streichquartetts Raum, seine Situation darzustellen. Hugo, der auf einem Hausboot lebt, Heleen, seine Cousine, die als Pflegefachfrau in Caroliens Arztpraxis arbeitet, Jochem, Caroliens Ehemann und Geigenbauer, sie alle haben schwer zu tragen und hadern mit ihrem Leben, mit der Gesellschaft und deren Entwicklung. Im Zusammenspiel, in der Arbeit an der Musik finden sie sich und für uns als Lesende mit etwas Musikerfahrung sind diese Passagen fast hörbar. Anna Enquist studierte nach einem Psychologiestudium Klavier und Cello und verwebt ihre Erfahrungen einmal mehr sehr gekonnt in den Text. Berührend sind auch die Kapitel über Reinier, den Cellolehrer Caroliens, der mit dem Altwerden Ängste entwickelt, die man niemandem wünscht. Die Handlung des Buches verdichtet sich, nachdem wir den Protagonisten in ihren Diskussionen und ihren Gedanken gefolgt und davon angeregt sind. Das dramatische Ende, das durch einen ausgebrochenen Verbrecher seinen Lauf nimmt, hätte nicht so stattfinden müssen, wäre da nicht die Versuchung Heleens gewesen, jemandem in ihrer Not etwas allzu Persönliches zu schreiben, das eigentlich nicht für diese Person gedacht war…

Anthony Doerr: Alles Licht, das wir nicht sehen

Zweiter Weltkrieg, Frankreich: Marie-Laure, ein blindes Kind, lebt mit seinem Vater, der Schlüsselverwalter des Naturkundemuseums in Paris ist. Aus dem besetzten Paris muss das Mädchen zu seinem Onkel nach Saint-Malo reisen, wo es wieder neu lernen muss, sich zurechtzufinden. Im Gepäck ist ein äusserst wertvoller Schatz versteckt. Am Satz ihres Vaters, er würde sie niemals verlassen, in einer Million Jahren nicht, hält Marie-Laure sich während der Zeit, als sie ohne Nachricht ihres Vaters leben muss.

Unterdessen Deutschland: Werner und Jutta, Waisenkinder, leben in einem Heim im Ruhrgebiet. Werner erweist sich als technisch begabter Bastler und Tüftler, interessiert sich speziell für Radios und Sender. Als Jugendlicher wird er für die Armee Funkgeräte reparieren, verbotene Sender finden, vorerst nicht ahnend, wofür und für wen er da arbeitet.

In kurzen Kapiteln leben wir mit den beiden Kindern, die heranwachsen und in den Kriegswirren sowohl schrecklichste Erfahrungen machen als auch schon fast glückliche, zarte Momente erleben. Nichts voneinander wissend, nähern sie sich geografisch immer mehr und wir hoffen, dass sie sich begegnen. Spannend, fesselnd, faszinierend die Perspektive eines blinden Menschen, abgrundtief traurig, aber auch mit tröstlichen Bildern lesen Sie eine Geschichte, die auch wahr sein könnte. 

Joachim Meyerhoff: Ach, diese Lücke, diese schreckliche Lücke

Nach dem Buch „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“, in dem Meyerhoff seine Kindheit als jüngster Sohn des Direktors einer psychiatrischen Anstalt, wo die Familie lebt, beschreibt, geht es in diesem Band um seine Lehrjahre an der Schauspielschule in München. Dort lebt er bei seinen ziemlich eigenwilligen Grosseltern, fühlt sich sehr zu Hause und wohl. Ganz im Gegensatz dazu hat er die grösste Mühe, sich im Schauspielmilieu einzufügen. Viel zu gross gewachsen, passt er eigentlich in keine Rolle…

Meyerhoff erzählt diese Jahre sehr ehrlich, mit verschiedensten Facetten all des herrlich Komischen und der traurigen Begebenheiten, die ihm begegnen. Ein leicht zu lesendes Buch mit viel Unterhaltungswert!