Unsere Lesetipps
empfohlen von Ulla Schiesser

Etel Adnan: Die Stille verschieben
Kennen Sie Etel Adnan? Ich bin ihr erst vor Kurzem begegnet. Der Titel und die wunderschöne Gestaltung ihres letzten Buches verführten mich dazu, die ersten Seiten noch im Stehen in der Buchhandlung zu lesen und es zu kaufen. Die Dichterin, Philosophin und Künstlerin, die ihr Leben zwischen dem Libanon, Frankreich und Kalifornien verbrachte, verband die unterschiedlichsten Kunstformen und Sprachen. Sie starb 2021, im Alter von 96 Jahren.
"Die Stille verschieben" ist eine Sammlung von Gedanken und Reflexionen über Politik, Natur, das Universum, die Gezeiten des Lebens und den nahenden Tod. Die Grausamkeit der heutigen Politik mit ihren Tyrannen beschäftigt die Autorin genauso wie das Orakel von Delphi, einer ihrer Sehnsuchtsorte, der immer wieder auftaucht. Adnans dichte, literarische Texte zu lesen, war für mich ähnlich, wie ein Blick in den Nachthimmel. Man muss nicht alles verstehen und schöpft aus den Zeilen der klugen Frau trotzdem Kraft, Trost und helle Aufregung im besten Sinne. Sie weiss grosse Ernsthaftigkeit mit Lakonie und Wärme zu verbinden und betrachtet die Dinge gleichzeitig aus der Ferne und von innen.
„Fast alle meine Überzeugungen haben mich verlassen. Ich nehme es als eine Art Befreiung, und außerdem waren es nicht viele.“
Im Lenbachhaus in München sind ihre farbenfrohen, poetischen Bilder noch bis am 23. Februar 2023 ausgestellt; ein guter Grund, eine Reise zu unternehmen.

Katherine May /Jennipher Antoni: Überwintern. Wenn das Leben innehält (Hörbuch)
"Winter" nennt Katherine May die Zeiten, in denen das Leben einem Menschen zu viel aufbürdet. Die Publizistin und Dozentin erzählt, wie ihr eigenes Schicksal Haken schlägt, sie aus der Welt fällt und wieder in sie zurückfindet. Mit einer ihr eigenen Kraft und viel Fantasie sucht Katherine May nach Strategien des "Überwinterns".
Sie reist nach Tromsø zu den Polarlichtern, schwimmt im eisigen Meer, schwitzt nach langen Gesprächen mit einer finnischen Freundin in der Sauna und feiert das Winterfest Santa Lucia. Sie besucht Samen und Druiden, sinniert über die Bedeutung von Dunkelheit in anderen Kulturen und schreibt von langen Nächten, jenen „dunkeln Stunden der Schlaflosigkeit, wenn mein Geist mitten in der Nacht beschließt, glockenwach zu sein“.
Sie macht sich wunderbare Gedanken über den Winterschlaf der Haselmaus, erzählt vom Einkochen und Einmachen, besinnt sich auf das Wesentliche und gibt sich Zeit, bis sie sich wieder bereit fühlt, mit neuer Energie weiterzumachen.
Ihr Fazit: Jeder durchlebt mal einen Winter. Bei manchen kehrt er immer wieder zurück. Die Autorin hält ein Plädoyer dafür, die dunklen Zeiten anzunehmen und dem Leben eine andere Richtung zu geben.
Schön und zurückhaltend gelesen von Jennipher Antoni.

Mariana Leky: Kummer aller Art
Eine Versammlung schräger Charaktere, beschädigter Menschen, Aussenseiterinnen und Melancholiker treffen wir in Mariana Lekys neuem Buch. Da ist Frau Wiese, die nicht mehr schlafen kann, Herr Pohl, der nachhaltig Verzagte, eine junge Frau mit erstem Liebeskummer, traurige Patienten und Psychoanalytiker, ein Mann mit zitterigen Händen - alle kämpfen sie sich irgendwie durch den Alltag. Ursprünglich als literarische Kolumnen für die Zeitschrift "Psychologie heute" verfasst, ergeben die Erzählungen zum Schluss ein sehr beeindruckendes Ganzes. Lekys Erzählweise ist leichtfüssig, humorvoll, mit starken Bildern, ich habe viel gelacht beim Lesen. Trotzdem erspürt sie den Kummer aller Art sehr genau und sie bleibt respektvolle Beobachterin ihrer Schicksalsgemeinschaft. Mein Lieblingsbuch 2022.