Unsere Lesetipps

empfohlen von Colette Fehlmann

Peter von Matt: Übeltäter, trockne Schleicher, Lichtgestalten

Die Kunst erleuchtet die Welt. Aber sie tut es auf zwielichtige Weise.

Zur Dummheit braucht es mindestens zwei. Einen, der dumm ist, und einen, der es feststellt.

Er ist unsterblich. Das weiss jeder. Und keiner weiss, warum. (Der Struwwelpeter!)

Mit solchen Anfangssätzen hat uns der Autor bereits gepackt.

Peter von Matt, der von 1976-2002 an der Universität Zürich Neuere Deutsche Literatur gelehrt und Generationen von Studierenden begeistert hat, versammelt in dieser neusten Publikation bisher verstreute Vorträge und Essays. Dass er, neben vielen weiteren Preisen, 2012 den literarischen Schweizer Buchpreis erhielt, sagt Vieles aus über sein Schreiben. Er verbindet seine hohe germanistische Kunst der detektivisch genauen Lektüre von Weltliteratur mit einem unverwechselbaren Sprachstil: scharfsichtig, empathisch und ungemein vergnüglich.

Mit Ordnung muss sein beginnt der erste Text, geht von da zur verschmitzten, aber sehr aufschlussreichen Erläuterung der frag-würdigen binären Klassifizierung der Wissenschaften in Natur- und Geisteswissenschaften. Dabei zeigt er die hochkomplexe, einer Formel ebenbürtige Präzision der literarischen ‘Metapher’. Grandios!

Dann überrascht er mit der subversiv-utopischen ‘Verschwörung’ zwischen Papageno und Pamina (statt der erwarteten Tamina) in Mozarts Zauberflöte oder mit dem «Familiengeheimnis», das uns alle angeht und das die Literatur über Jahrhunderte in spannungsvolle Dramen umwandelte.
Schliesslich «Struwwelpeters Unsterblichkeit», wo wir über den scheinbar bekannten Text und seine Entstehungsgeschichte ungeahnt Neues erfahren. So lautet die Frage nach der Lektüre von jedem Aufsatz: Was für Entdeckungen erwarten uns im nächsten?

Am liebsten würde man all die erwähnten und knapp erzählten Beispiele gleich selber lesen oder wiederlesen. Als Alternative: Die früheren Werke des grossen Autors Peter von Matt.

Lana Lux: Jägerin und Sammlerin

Erzählt wird von einer toxischen Mutter-Tochter-Beziehung, aus verschiedener Perspektive. Zunächst erleben wir Alissas prekäre Gegenwart in der WG mit ihrer Freundin Mascha. Mit ihr verbindet sie seit ihrer Kindheit eine Hass-Liebe, eine Beziehung des jahrelangen Wettstreits bezüglich krankmachender Ballettambitionen und im Kampf gegen den Körper, was bei beiden jungen Frauen in die Essstörung führt. Aus der Innensicht Alissas erfahren wir hautnah, wie Bulimie sich anfühlt und welches Gedankenkarussell ihren Kopf besetzt.

Im zweiten Teil schreibt Alissa in der Klinik, als Therapieform, Lebensphasen aus ihrer Vergangenheit nieder. Sie ist als Zweijährige aus der Ukraine nach Deutschland gekommen, wo ihre Eltern versuchten, Fuss zu fassen. Alissa tut alles, um ihre Mutter glücklich zu sehen, sie stolz zu machen, die Mutter scheint nichts anderes zu können, als ihre Tochter zu entwerten. Ihre permanente Kritik hat sich in Alissa als Schuldgefühl eingebrannt. Erst im dritten Teil erfahren wir aus der Sicht der Mutter deren traumatische Geschichte, die sie ihrer Tochter nie erzählen wollte.  

Lana Lux aber schreibt lakonisch, rhythmisch, leichtfüssig, mit Komik. Es sind hinreissende Dialoge, die die tragische Verstrickung hör- und spürbar machen.

Eine schmerzhafte Geschichte, atemberaubend erzählt.

Franz Schubert: Klaviertrios Nr. 1 op. 99 und Nr. 2 op. 100 Christian Tetzlaff, Tanja Tetzlaff, Lars Vogt (2023), in memory of Lars Vogt (1970-2022)

Schuberts Klaviertrios begleiten mich ein Leben lang. Seit der Filmmusik zum Kinoereignis ‘Barry Lyndon’ von Stanley Kubrick in den 70er-Jahren. Der zweite Satz des Trios in Es-Dur hat sich da für immer eingeprägt und führt zu den beiden integralen Trios: Sie gehören zu den anrührendsten und intimsten Werken der Musikgeschichte.

Schubert hat sie beide 1827, im Jahr vor seinem Tod geschrieben, im gleichen Jahr wie seine «Winterreise». Da geschieht wieder und wieder das Sich Aufbäumen, das sich unvermittelt in perlende, zärtlichste, liedhafte Melodien verwandelt - und dann wieder der Aufruhr, die Dramatik. Was für ein Reichtum an heiter-melancholischen Motiven, Variationen und Modulationen, die daran anschliessen! Hier ist alles gesagt über die menschliche Existenz in vollkommener, schmerzlicher Schönheit. Schubert hat es in seinen nur 31 Lebensjahren durchlebt, durchlitten und erahnt.