Unsere Lesetipps

empfohlen von Barbara Schmidt

Constanze von Kitzing: Ich bin anders als du; ich bin wie du

Leider will der Frühling ja dieses Jahr nicht so richtig in Fahrt kommen. Man könnte darüber lamentieren – oder es sich an den vielen viel zu nassen, kühlen Nachmittagen eben weiterhin mit einem warmen Tee und den Lieblingsbüchern auf dem Sofa bequem machen. Mit dem Nachwuchs im Primarschulalter nehme ich im Moment besonders gerne das gleichwohl warmherzige wie intelligente Wendebuch «Ich bin anders als du; ich bin wie du» von Constanze von Kitzing zur Hand. Was 2019 zuerst als Pappbilderbuch für die Kleinen erschienen ist, wurde zwei Jahre später in einer erweiterten Erstleser-Ausgabe als grossformatiges Vorlesebilderbuch veröffentlicht. Zum Glück! Die neue Ausgabe mit deutlich mehr Text, vielen bunten Bild-Wörtern sowie einer liebevoll gestalteten Bild-Legende ist ein wichtiges Kinderbuch, das überzeugend einfach und sehr nah an der Lebensrealität der Kinder ist.

Auf jeder Seite erfahren die kleinen Leser*innen von Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen den Kindern. Die Vermittlung von Verschiedenheiten und Gemeinsamkeiten in diesem Buch ist hinreissend vielfältig. Oft wird dabei mit Erwartungen und vorschnellen Zuschreibungen gespielt und manches Umblättern überrascht. «Ich bin anders als du; ich bin wie du» ist ein «Wendebuch» und kann von vorne und von hinten gelesen werden. In der Mitte des Buches steht schließlich die Erkenntnis: «Ich bin ich!»

«Constanze von Kitzing ist eine Pionierin, was Diversität in deutschsprachigen Kinderbüchern betrifft», meint der Deutschlandfunk. Und ich finde, er hat recht. Mit ihren Büchern will die Autorin und Illustratorin Kindern nicht nur Liebe, Respekt und Wertschätzung vermitteln, sondern auch Klischees und Stereotype hinterfragen. «Ich bin anders als Du; ich bin wie Du» ist ein wahnsinnig liebevolles, reichhaltiges Kinderbuch, das (nicht nur den Nachwuchs) zum Nachdenken anregt und zu gemeinsamen Gesprächen und Diskussionen über Courage, Freundschaft und einen wertschätzenden Umgang miteinander einlädt. So kommt man auch durch einen kühlen Frühling – und wenn es am Ende doch noch warm wird, finden sich zwischen diesen beiden Buchdeckeln viele gute Ideen, die man zum Spielen mit Freunden auch mit nach draussen nehmen kann.

Anja Wicki: In Ordnung

Um meiner eigenen Sehnsucht nach frühlingshafter Leichtigkeit etwas entgegenzusetzen, habe ich mich wieder einmal mit neuen Textsorten auseinandergesetzt. So habe ich die junge Luzerner Comic-Autorin Anja Wicki und ihre Graphic Novel «In Ordnung» entdeckt. Leicht ist das Thema der Graphic Novel zwar nicht - es geht um das Leben mit einer psychischen Erkrankung - und doch hat mich die Lektüre inspiriert und berührt.
«In Ordnung» erzählt das Leben von Eva. Dieses wird von einer Zwangsstörung bestimmt. Für Eva ist das Leben einfacher, wenn alles seine Ordnung hat, das Besteck exakt neben dem Teller, der Tag einer nie abweichenden Struktur folgt. Fragmentarisch, in locker verknüpften Episoden erzählt Anja Wicki, wie Eva im Lauf der Zeit immer ohnmächtiger in Tiefen ihrer psychischen Krankheit gerät. Die über die Jahre zunehmende Zwangsstörung breitet sich in Evas Leben aus, wie eine Krake, Kleinigkeiten vermögen existenzielle Krisen auszulösen, bis zuletzt alles Spontane aus Evas Leben verdrängt, alle sozialen Kontakte gebrochen sind.
Da taucht eines Tages Gabi auf. Gabi ist ein Rätsel. Als Leser*in weiss man nicht recht, ist es ein echter Mensch, oder eine imaginäre Personifikation des Erzengels Gabriel? Aber ob Mensch oder Schutzengel spielt schlussendlich keine Rolle. Wichtig ist, Gabi ist anders, spontan, chaotisch, unberechenbar. Er bringt Evas Leben durcheinander, was zunächst zu einer neuen tiefen Krise führt - aber auch zu einem ersten Bruch mit ihren Zwangsstörungen.

Zeichnerisch wird Evas Innenleben überzeugend übersetzt. Anja Wicki arbeitet mit wenig Text. Die Bilder sind stilisiert, aufgeräumt, die innerlichen Aufwallungen werden in dezenten Pastellfarben coloriert. So entsteht ein ruhiger, aber steter Sog, der Evas langen Weg durch die Krankheit unmittelbar und nah macht.

«In Ordnung» ist das bestechende Debüt einer feinfühligen Künstlerin; ein sinnliches und nachhaltiges Leseerlebnis.